Reform der Organspende gescheitert

  • Ich persönlich finde auch, dass es eine sehr schwierige Entscheidung war, die heute im Bundestag zu treffen war.


    Letztendlich wurde mit dieser Entscheidung aber die Chance vertan, einen Aufhänger zu haben, um die Menschen "zu zwingen", sich auch mit unangenehmen Fragen zu beschäftigen.

    In der Gesellschaft werden Themen wie Organspende, Tod/Sterben, Wertevorstellungen zum Lebensende und auch Fragen, wer für jemanden entscheiden soll, falls man selber dazu nicht mehr in der Lage ist, völlig verdrängt. Mit Einführung der Widerspruchslösung hätte es die Möglichkeit gegeben, die Organspende und die dazugehörigen Diskussionen aus ungeliebten Ecken heraus- und in die Mitte der gesellschaftlichen Diskussion zu holen - was dann auch in Hinblick auf ähnliche Vorkehrungen wie Patientenverfügung, Vorsorgevollmacht und Betreuungsverfügung sicherlich auch Synergieeffekte gehabt hätte.


    Nun ist diese Chance vertan.


    Realistisch betrachtet bedeutet es ja somit, dass weiterhin die Angehörigen eines Patienten mit sehr schweren Hirnschäden um den Zeitraum der Diagnose eines irreversiblen Ausfalls der Hirnfunktionen mit der Frage nach Organspende konfrontiert werden und nach dem mutmaßlichen Willen befragt werden - diese zusätzliche Belastung der Angehörigen hätte man mit einer anderen Entscheidung auch herausnehmen können.


    Allerdings glaube ich auch, dass es hierzu auch mehr Beratung, Information und Wissen bedarf - Organspende sollte (genauso wie Erste Hilfe) obligater Bestandteil im Lehrplan sein, sollte bei Vorsorgeuntersuchungen mit angesprochen werden und auch Ämter sollten bei bestimmten Ereignissen auf entsprechende Planungen hinweisen (z.B. das Standesamt auch bei der Eheschließung darauf hinweisen, dass das nicht, wie landläufig angenommen wird, bedeutet, dass der Ehepartner im Krankheitsfall automatisch entscheiden darf, sondern hierfür auch noch eine Vorsorgevollmacht erforderlich ist).

    Einige gesetzliche Optionen gibt es schon (z.B. https://www.sozialgesetzbuch-sgb.de/sgbv/132g.html ), allerdings habe ich noch nie erlebt, dass dieses von einer Pflegeeinrichtung auch gelebt wird und beispielsweise bei Einzug ins Heim auch über solche Dinge gesprochen wird - Notruf im Fall der Fälle zu wählen ist einfacher.


    Hier wäre dann auch die Frage nach Organspende (wie schon angedacht gewesen bei Neubeantragung von Ausweispapieren) ein guter Aufhänger gewesen.

  • Ich finde es schwer, mich für eine der möglichen Lösungen zu entscheiden.


    Klar wäre eine Widerspruchslösung die mit den wahrscheinlich meisten Organen, die, bei der man sich mit dem Ende auseinandersetzen muss. Andererseits weiß ich nicht, wer tatsächlich daran denkt zu widersprechen und vielleicht einfach keinen Überblick über die Rechtslage und Konsequenzen hat. Ca. 1 von 6 Menschen ist funktionaler Analphabet, kann sich also nicht einfach mit ner Zeitung hinsetzen und alles nachvollziehen.

    Klar gilt das auch für den Autokauf und das Verschulden, wenn allerdings der Staat in diese Richtung handelt, sollten strengere Maßstäbe gelten, finde ich. Und wen man dann dafür einsetzt, die potentiellen Spender vernünftig aufzuklären... schwierig.

  • Letztendlich wurde mit dieser Entscheidung aber die Chance vertan, einen Aufhänger zu haben, um die Menschen "zu zwingen", sich auch mit unangenehmen Fragen zu beschäftigen.

    In der Gesellschaft werden Themen wie Organspende, Tod/Sterben, Wertevorstellungen zum Lebensende und auch Fragen, wer für jemanden entscheiden soll, falls man selber dazu nicht mehr in der Lage ist, völlig verdrängt. Mit Einführung der Widerspruchslösung hätte es die Möglichkeit gegeben, die Organspende und die dazugehörigen Diskussionen aus ungeliebten Ecken heraus- und in die Mitte der gesellschaftlichen Diskussion zu holen - was dann auch in Hinblick auf ähnliche Vorkehrungen wie Patientenverfügung, Vorsorgevollmacht und Betreuungsverfügung sicherlich auch Synergieeffekte gehabt hätte.

    Menschen zu zwingen, sich mit unangenehmen Fragen zu beschäftigten, lässt sich nur schlecht mit unserem freiheitlichen Rechtsstaat vereinbaren. Soll dann auch gelten, dass jeder, der keine Patientenverfügung hat, zwingend am Leben erhalten wird oder umgekehrt keine lebenserhaltenden Maßnahmen mehr erhält? Er hätte sich ja dafür entscheiden können, seinen Willen zu äußern … Hat er halt Pech gehabt. Oder wer vergessen hat, Blutspenden zu verneinen, der wird abgeholt und abgepumpt, wenn Blut benötigt wird? In einem solchen System möchte ich nicht gerne leben.


    Wer meint, es müsse mehr Organspenden geben, wird nicht umhin kommen, die Menschen davon zu überzeugen.

  • Zitat

    Menschen zu zwingen, sich mit unangenehmen Fragen zu beschäftigten, lässt sich nur schlecht mit unserem freiheitlichen Rechtsstaat vereinbaren.

    Klar - deswegen habe ich es auch bewusst in Anführungszeichen gesetzt, weil es ja kein staatlicher Zwang ist, sich damit zu beschäftigen, man könnte ja weiterhin mit der Philosophie durchs Leben gehen, dass man solche Themen verdrängt und wenn es mal so weit ist, es einem ohnehin egal ist.

    Was ich mit dem Zwang meinte, habe ich ja kurz drauf nochmal erklärt "hätte es die Möglichkeit gegeben, die Organspende und die dazugehörigen Diskussionen aus ungeliebten Ecken heraus- und in die Mitte der gesellschaftlichen Diskussion zu holen"

    Zitat

    Soll dann auch gelten, dass jeder, der keine Patientenverfügung hat, zwingend am Leben erhalten wird oder umgekehrt keine lebenserhaltenden Maßnahmen mehr erhält? Er hätte sich ja dafür entscheiden können, seinen Willen zu äußern … Hat er halt Pech gehabt

    Letztendlich läuft es genau darauf hinaus - kommt jemand bewusstlos ins Krankenhaus, kann seinen Willen nicht äußern und hat ihn im Vorfeld nicht schriftlich dargelegt (Patientenverfügung) oder Personen benannt, die seinen Willen für ihn vertreten (durch Vorsorgevollmacht), ist es gar nicht mal unwahrscheinlich, dass es den Weg einer Berufsbetreuung nimmt und der Berufsbetreuer (mangels Wissen über Wertevorstellungen und Wünsche des Patienten) dann natürlich zwangsläufig zugunsten des Lebens entscheidet, auch wenn es dann im schlimmsten Fall mit schweren Beeinträchtigungen im Beatmungsheim endet - hat man natürlich Angehörige, versucht man über diese den mutmaßlichen Willen des Patienten zu eruieren und kann dann meist auf einen Berufsbetreuer verzichten, falls ein Angehöriger die Betreuung übernehmen möchte.


    Ansonsten ist natürlich das Risiko recht hoch, dass man eine Therapie erhält, die in einen Zustand mündet, den man für sich niemals gewollt hätte - da man im Zweifelsfall (wie auch bei dem Beginn einer Reanimation im Rettungsdienst auch) erst mal davon ausgeht, dass die Therapie und ein Leben dem mutmaßlichem Willen entspricht

  • Menschen zu zwingen, sich mit unangenehmen Fragen zu beschäftigten, lässt sich nur schlecht mit unserem freiheitlichen Rechtsstaat vereinbaren. Soll dann auch gelten, dass jeder, der keine Patientenverfügung hat, zwingend am Leben erhalten wird oder umgekehrt keine lebenserhaltenden Maßnahmen mehr erhält? Er hätte sich ja dafür entscheiden können, seinen Willen zu äußern … Hat er halt Pech gehabt. Oder wer vergessen hat, Blutspenden zu verneinen, der wird abgeholt und abgepumpt, wenn Blut benötigt wird? In einem solchen System möchte ich nicht gerne leben.


    Tatsächlich leben wir nicht nur in einem freiheitlichen Rechtsstaat, sondern auch in einer sozialen Gemeinschaft, in welcher sich diese mit jedem dieser Gemeinschaft, sogar mit denjenigen außerhalb dieser Gemeinschaft, solidarisch zeigt und alles für jeden einzelnen dieser Gemeinschaft gibt, und dies unabhängig von dessen Vorleistung. Von daher halte ich es trotz meiner sehr liberalen Einstellung für akzeptabel, dass diese Gemeinschaft von seinen einzelnen Mitgliedern wenigstens ein einziges Mal in deren Leben eine Stellungnahme bezüglich seiner Spendebereitschaft zu fordern. Diese wäre ja jederzeit beliebige Male zu ändern. Und egal wie diese Entscheidung ausfiele, derjenige kann dennoch immer noch auf die Solidarität der Gemeinschaft bauen.


    Der Staat hat schon immer und wird es auch weiter tun, in begründeteren Fällen in die persönliche Freiheit des Einzelnen eingegriffen. Warum sollte es hier eine solche Ausnahme geben.

    Wer meint, es müsse mehr Organspenden geben, wird nicht umhin kommen, die Menschen davon zu überzeugen.


    Überzeugen bedeutet auf rationaler Ebene die Menschen zu erreichen. Dies wird bei solch emotionalen Themen, welche die eigene Existenz bzw. Endlichkeit dieser Existenz berührt, nur wenig fruchten. Nicht umsonst bringen sowohl Befürworter wie auch Gegner stark emotionalisierte "Argumente", seien es verzweifelte Fallberichte von auf Organe wartende Menschen, oder dass "Menschen ausgeschlachtet" werden sollen.

  • Von daher halte ich es trotz meiner sehr liberalen Einstellung für akzeptabel, dass diese Gemeinschaft von seinen einzelnen Mitgliedern wenigstens ein einziges Mal in deren Leben eine Stellungnahme bezüglich seiner Spendebereitschaft zu fordern. Diese wäre ja jederzeit beliebige Male zu ändern.

    Ich hätte kein Problem damit, eine verbindliche Entscheidung zu verlangen, bspw. bei jeder Ausstellung/Verlängerung von Personalausweis oder Reisepass. Was ich für indiskutabel gehalten habe ist vielmehr, bei Menschen, die keine Entscheidung getroffen haben, eine Zustimmung zu unterstellen.

  • Was ich für indiskutabel gehalten habe ist vielmehr, bei Menschen, die keine Entscheidung getroffen haben, eine Zustimmung zu unterstellen.

    Sind Österreich, Spanien und fast alle anderen EU-Staaten dann keine guten Rechtsstaaten?

  • Ich hätte kein Problem damit, eine verbindliche Entscheidung zu verlangen, bspw. bei jeder Ausstellung/Verlängerung von Personalausweis oder Reisepass. Was ich für indiskutabel gehalten habe ist vielmehr, bei Menschen, die keine Entscheidung getroffen haben, eine Zustimmung zu unterstellen.


    Genau eine solche Entscheidung sollte ja verlangt werden. Jeder sollte, soweit ich mich erinnere, 3 mal angeschrieben oder wie auch immer erreicht werden. Und erst wenn dann keine Aussage vorgelegen hätte, wäre die Zustimmung unterstellt worden.

  • diese zusätzliche Belastung der Angehörigen hätte man mit einer anderen Entscheidung auch herausnehmen können.

    Ich halte die jetzt gewählte Version der Entscheidung gerade für die Angehörigen für weniger belastend. Die Frage "Hat sich Ihr Angehöriger mal Gedanken zum Thema Organspende gemacht bzw. sich dazu geäußert?" ist aus meiner Sicht deutlich weniger "brutal, wie die Frage "Hat Ihr Angehöriger sich mal gegen die Organspende ausgesprochen?". Gerade die letzte Formulierung empfinde ich persönlich als deutlich belastender, denn hier kommt unterschwellig durch dass man ggf. den Patienten sonst gleich "ausschlachtet" (<- gern von Gegnern genommene Formulierung).

    Nun ist diese Chance vertan.

    Aus meiner Sicht ist keine Chance vertan, denn es kam zu einer Änderung und das ist wichtig. Vertan hätte man die Chance nur, wenn keiner der 3. Gesetzesentwürfe angenommen worden wäre oder gar der 3. Entwurf. So hat man nicht den großen Wurf, aber man hat einen kleine Veränderung und auch die kann durchaus etwas bewirken.
    Wichtig ist doch: Es kommt zu mehr Aufklärung; die Leute werden öfter mit dem Thema konfrontiert und mit dem Onlineregister gibt es endlich eine zeitgemäße und eindeutige Möglichkeit zur Willensäußerung.

  • Und egal wie diese Entscheidung ausfiele, derjenige kann dennoch immer noch auf die Solidarität der Gemeinschaft bauen.

    Das war zum Beispiel einer der Punkte, an dem ich bei der Diskussion ins Grüben geriet: Unser gesamtes heutiges Datenschutzrecht beruht auf der Überlegung, dass eine staatliche Datenerhebung, deren Grenzen der Betroffene nicht abschätzen kann, zu einem unausgesprochenen Anpassungsdruck führt. Wenn ein staatliches Register existiert, in dem nachgehalten wird, ob ich mich für oder gegen die Organspende entschieden habe, kann das zu der Befürchtung führen, dass im Fall meiner Bedürftigkeit in dieses Register geschaut wird und dass meine dort eingetragene Entscheidung schlimmstenfalls meine Therapie bestimmt. Das muss nicht einmal bewusst geschehen.

    Lügen ist keine Kunst. Kunst ist, anderen die Wahrheit in einem neuen Licht zu zeigen.