Akademisierung des Notfallsanitäters?

  • Zitat

    Warum hat sich damals die Gründungsversammlung in einem demokratischen Prozess für diese Limitierung entschieden hat ist recht einfach und hoffentlich auch einleuchtend. Als Vorstand sind wir in regelhaftem Austausch mit Hochschulen und Hochschullehrer*innen. In den letzten zwei Wochen gab es beispielsweise Videocalls zu Paramedic-Professoren aus Canada und Australien.

    An dieser Stelle darf ich als Ex-australischer Paramedic einwerfen:

    Ein relevant großer Teil der australischen Paramedics hat auch nicht studiert sondern hat noch Organisations-interne Ausbildungen absolviert die man später zum "Diploma" aufgewertet hat bzw. ist als Overseas-Paramedic aus anderen Ländern ohne Uniabschluss (UK, SA, US) eingewandert.

    Erst in den letzten Jahren ist das Studium zum Standard geworden - wobei es noch immer einen Weg zum Paramedic Diploma ohne Studium gibt (Vocational pathway in NSW).


    Gerade diese Paramedics sind und waren es aber, die in Australien die meisten Veränderungen erzeugt haben und u.a. für die Registry, die EBM-Basis der Protocols und die Akademisierung der Ausbildung gekämpft haben.


    Und genau diese Paramedics sind jetzt auch in vielen wissenschaftlichen und medizinischen Gremien....

  • So richtig viel kann ich mir darunter auch nach Googlen des Begriffes auf mehreren Seiten nicht vorstellen. Die Zeit, den Podcast zu hören habe ich nicht, von daher wäre eine stichpunktartige Aufzählung des Profils sehr nett.

    Guten Tag,


    das kann ich versuchen, wird aber vermutlich nur eingeschränkt gelingen. Wie am Beispiel des angesprochenen Forschungsprojektes zu erkennen, ist der Begriff bzw. das Fach auch in Ländern dieser Welt die Paramedicine Fakultäten und/oder Lehrstühle haben noch nicht abschließend und umfassend definiert. Auch innerhalb der DGRe gibt es viele Diskussionen um das Profil dieser neuen Disziplin, das ist aber auch in vielen anderen Fächern der Fall. Fragen Sie mal einen Soziologen was Gesellschaft ist oder einen Bildungswissenschaftler was Bildung bedeutet.

    Ich persönlich verstehe die Rettungswissenschaft als Berufswissenschaft für die Tätigkeit von Notfallsanitäter*innen. Sie ist eine Symbiose aus (Notfall- bzw. extraklinischer) Medizin, Gesundheitswissenschaften und öffentlicher Sicherheit. Sie beinhaltet aber auch rettungsdienstspezifische Erkenntnisse aus anderen Fachgebieten wie beispielsweise Psychologie, Soziologie, Technik, Einsatztaktik, Erwachsenenbildung, Kommunikation oder Versorgungsforschung. Weiterhin sind die Retter*innen nicht nur Subjekt sondern auch Objekt der Rettungswissenschaften.


    Als ein mögliches Beispiel einer rettungswissenschaftlichen Forschung verweise ich hier auf eine frische Publikation welche die Aspekte Notfallmedizin, Handlungskompetenz (im Sinne der Bildungswissenschaften) und Versorgungsforschung kombiniert:


    • Naklicka, P., Möckel, L., Hofmann, T. (2021). Success Rates in Vein Cannulation of German Paramedics A Single-Center Study. International Paramedic Practice, 11(2). DOI: 10.12968/ippr.2021.11.2.35


    Weitere rettungswissenschaftliche (Grundlagen-)Forschung - nicht aus Deutschland - mit klarer Leseempfehlung für Interessierte gibt es hier:


    • Long, D. N., Lea, J., & Devenish, S. (2018). The conundrum of defining paramedicine: more than just what paramedics “do.” Australasian Journal of Paramedicine, 15(1). https://doi.org/10.33151/ajp.15.1.629
    • Bigham, B., & Welsford, M. (2015). Applying hospital evidence to paramedicine: Issues of indirectness, validity and knowledge translation. Canadian Journal of Emergency Medicine, 17(3), 281–285. https://doi.org/10.1017/cem.2015.65
    • Olaussen, A., Beovich, B., & Williams, B. (2021). Top 100 cited paramedicine papers: A bibliometric study. Emergency Medicine Australasia, (March), 1742-6723.13774. https://doi.org/10.1111/1742-6723.13774
    • Maguire, B., O’Meara, P., & Newton, A. (2016). Toward an international paramedic research agenda. Irish Journal of Paramedicine, 1(2), 1–3. https://doi.org/10.32378/ijp.v1i2.38
    • Reed, B., Cowin, L., O’meara, P., & Wilson, I. (2019). Professionalism and professionalisation in the discipline of paramedicine. Australasian Journal of Paramedicine, 16. https://doi.org/10.33151/ajp.16.715
    • Bowles, R. R., Van Beek, C., & Anderson, G. S. (2017). Four dimensions of paramedic practice in Canada: Defining and describing the profession. Australasian Journal of Paramedicine, 14(3). https://doi.org/10.33151/ajp.14.3.539
    • Carter, H., & Thompson, J. (2015). Defining the paramedic process. Australian Journal of Primary Health, 21(1), 22. https://doi.org/10.1071/PY13059
    • Eaton, G., Mahtani, K., & Catterall, M. (2018). The evolving role of paramedics – A NICE problem to have? Journal of Health Services Research and Policy, 23(3), 193–195. https://doi.org/10.1177/1355819618768357

    Dennoch bleibt der Begriff Rettungswissenschaften (und eben auch Paramedicine und Paramedic Science) noch etwas diffus, aber wir arbeiten daran.

    Viele Grüße
    Thomas Hofmann






  • Eine kleine Ergänzung meinerseits:


    Ich weiss, dass dies hier ein Forum ist, und es in der Natur der Sache liegt, dass sich hier schriftlich ausgetauscht wird. Dennoch möchte ich die Option anbieten die Diskussion über Sinn und Unsinn sowie Definitionen der Rettungswissenschaften in einem Zoom-Call fortzusetzen. Ich denke, dass in einem konstruktiven (virtuell-) persönlichen Austausch viele Unklarheiten beseitigt werden können. Darüber hinaus lerne auch ich gerne neue Perspektiven und Argumente kennen.


    Falls hieran Interesse besteht, bitte ich um entsprechende Rückmeldungen.

    Viele Grüße und gute Nacht!
    Thomas Hofmann

  • Ebenso ein schlechtes Bespiel, weil es keine Aufgabe des RD ist. Rückenschmerzen sind nicht lebensbedrohlich. Die Stratifizierung beginnt hier bei der Einsatzdisposition. Hier gehört nicht der RD alarmiert, sondern der HA. Wenn gehäuft Patienten mit Gürtelrose anrufen, wird diese Erkrankung doch auch nicht zwangsläufig zum Einsatzgebiet des RD?

    Es ist doch inzwischen kaum wegzudiskutieren, dass die Notrufenden definieren, was ein Notruf ist. Das wird in Zukunft eher mehr als weniger, wenn HA, KÄND, und andere Angebote schwieriger zu erreichen sind. Der Ansatz, dass die Leitstelle das abweisen soll ist romantisch, aber nicht realistisch. Die Haftung möchte keine Behörde, keine Firma, und kein Disponent. Es wird also dabei bleiben, dass ein RTW zu niedrig-kodierten Notrufen alarmiert wird.


    Die Realität eines NotSan auf dem RTW ist also, dass er häufig subakute, bis gar nicht akute Krankheitsbilder gegenüber steht. Dennoch verstecken sich dazwischen ja auch ernsthaft Kranke oder gar Notfallbilder zwischen all den Einsatzbildern. Der NotSan wird immer mehr abwägen müssen, ob das Einsatzbild ein Notfall ist, und ob ein Transport nötig ist, und wenn nicht wie es weiter geht (KÄND? HA Termin? Vorstellung beim FA?). Das mag keiner mögen, und das mag nicht vom System vorgesehen sein, aber das ist jetzt schon Alltag. Und das System "wehrt" sich nicht, es wälzt die schwierigen Entscheidungen nur ab.


    Wenn also gehäuft Patienten mit Gürtelrose anrufen, dann wird ein NotSan auch das bedienen müssen. Die Frage ist nur, wie man es bedient. Mit schroffen Worten und der Hoffnung alle Notrufenden zu erziehen? Mit einem Transport, weil alles was A-E stabil ist bedarf keiner sofortigen Intervention? Verweis zum HA klappt ja nur dann, wie _BC_ schon anmerkt, wenn dieser auch kommt und hilft. Ansonsten klingelt gleich wieder das Telefon bei Harris.


    Warum etablieren sich denn in UK Spezialisierungen, wo die Paramedics (Community Paramedic / Paramedic Practitioner) die subakuten Fälle abarbeiten? Doch nicht weil die UK Rettungsdienste so viel Personal über hatten, dass sie eine Verwendung gebraucht hätten. Sondern weil man feststellt, dass die Bedürfnisse des Bürgers nicht bedient werden durch das existierende System. Und weil es für den RD nur die Option bleibt die RTW freizuhalten indem man diese Notrufenden anders bedient. Ob es sich so entwickeln muss bei uns stelle ich in Frage, aber die Lösung kann nicht sein, das wir die Entwicklung blöd finden, aber unsere Lösung bleibt immer mehr Fahrzeuge in den Dienst zu stellen.


    Der Rettungsdienst entwickelt sich da ein Stück weit weg von Notfallmedizin im klassischen Sinne, aber wenn dann ein NotSan dafür 80% seiner Einsätze befriedigend für sich und Patienten abarbeiten kann, dann ist das besser, als wenn er gefrustet ist, weil er schon wieder Rückenschmerz transportiert (weil es keine Empfehlung, Scores, definierte Schnittstellen gibt).


    Diese Entwicklung wird eben auch Evidenz und Wissenschaft an seiner Seite benötigen, und scheint nicht die aktuellen Fachgesellschaften (und deren Sektionen) zu interessieren.

    Under pressure, you don't rise to the occasion. You sink to your level of training.

  • Ich hab grundsätzlich ein Problem damit, "Akademisierung" in einem Atemzug zu nennen mit Bachelor-Abschlüssen. Mag ja sein, dass eine irgendwie geartete "Aufblähung" der Ausbildung in Teilaspekten sinnvoll sein könnte, aber wer meint, durch so eine verschulte Bolognese einen wissenschaftlichen Anstrich zu bekommen, der wird sich vermutlich einen ziemlichen Frust abholen.

    They say God doesn't close one door without opening another.

    Please, God, open that door. :oncoming_fist_light_skin_tone:

  • Es ist doch inzwischen kaum wegzudiskutieren, dass die Notrufenden definieren, was ein Notruf ist. Das wird in Zukunft eher mehr als weniger, wenn HA, KÄND, und andere Angebote schwieriger zu erreichen sind. Der Ansatz, dass die Leitstelle das abweisen soll ist romantisch, aber nicht realistisch. Die Haftung möchte keine Behörde, keine Firma, und kein Disponent. Es wird also dabei bleiben, dass ein RTW zu niedrig-kodierten Notrufen alarmiert wird.

    Wenn der "Patient" definiert, was eine Erkrankung ist oder was ein Notfall, dann bestimmt er zukünftig auch, wo und wann er operiert wird? Welches Medikament ihm zusteht? Wie lange er im Krankenhaus bleibt oder welche Reha die richtige ist? Wenn man immer den Weg des geringsten Widerstandes und einfachsten Weg geht, dann ist das die Zukunft. Von einer Behörde erwarte ich einen gleichartig ressourcenschonenden Einsatz von Material, wie es auch sonstige Kostenträger von allen anderen Beteiligten in der Medizin erwarten.


    Die Realität eines NotSan auf dem RTW ist also, dass er häufig subakute, bis gar nicht akute Krankheitsbilder gegenüber steht. Dennoch verstecken sich dazwischen ja auch ernsthaft Kranke oder gar Notfallbilder zwischen all den Einsatzbildern. Der NotSan wird immer mehr abwägen müssen, ob das Einsatzbild ein Notfall ist, und ob ein Transport nötig ist, und wenn nicht wie es weiter geht (KÄND? HA Termin? Vorstellung beim FA?). Das mag keiner mögen, und das mag nicht vom System vorgesehen sein, aber das ist jetzt schon Alltag. Und das System "wehrt" sich nicht, es wälzt die schwierigen Entscheidungen nur ab.

    Das war und ist die Kernaufgabe des Rettungsdienstes, das Erkennen von ernsthaft erkrankten und dringlich zu behandelnden Menschen, deren kurzfristige Stabilisierung und dem Zuführen in eine geeignete Einrichtung zur weiteren Behandlung. Das erlernt er in seiner Ausbildung. Ob das am Tag einer von zehn Patienten ist oder einer von zwei, ist völlig belanglos.

    Fallen Behandlungsmöglichkeiten zukünftig mehr und mehr aus und der NFS soll diese kompensieren, dann muss die Ausbildung dementsprechend angepasst werden. Ob dies nötig sein wird oder schon ist, kann man sicher gerne erforschen.

    Letztlich bleibt dem NFS aber noch immer der problemlose Transport in einer Krankenhaus, welches 24 Stunden zur Verfügung steht. Schwierige Entscheidungen auf dem Rücken der NFS kann ich daher nicht erkennen, es sei denn, man möchte diese herbeiführen, indem man sich gegen eine ärztliche Vorstellung entscheidet.


    Wenn also gehäuft Patienten mit Gürtelrose anrufen, dann wird ein NotSan auch das bedienen müssen. Die Frage ist nur, wie man es bedient. Mit schroffen Worten und der Hoffnung alle Notrufenden zu erziehen? Mit einem Transport, weil alles was A-E stabil ist bedarf keiner sofortigen Intervention? Verweis zum HA klappt ja nur dann, wie _BC_ schon anmerkt, wenn dieser auch kommt und hilft. Ansonsten klingelt gleich wieder das Telefon bei Harris.

    Von schroffen Tönen hat niemand gesprochen. Ein Verweis an die korrekte Stelle kann in einem freundlichen Ton erfolgen. Zum Rest s.o.


    Warum etablieren sich denn in UK Spezialisierungen, wo die Paramedics (Community Paramedic / Paramedic Practitioner) die subakuten Fälle abarbeiten? Doch nicht weil die UK Rettungsdienste so viel Personal über hatten, dass sie eine Verwendung gebraucht hätten. Sondern weil man feststellt, dass die Bedürfnisse des Bürgers nicht bedient werden durch das existierende System. Und weil es für den RD nur die Option bleibt die RTW freizuhalten indem man diese Notrufenden anders bedient. Ob es sich so entwickeln muss bei uns stelle ich in Frage, aber die Lösung kann nicht sein, das wir die Entwicklung blöd finden, aber unsere Lösung bleibt immer mehr Fahrzeuge in den Dienst zu stellen.

    Die britische Gesundheitsversorgung ist mit unserer nicht ansatzweise vergleichbar, von daher verbietet es sich, Teile daraus als Beispiele anzuführen.


    Der Rettungsdienst entwickelt sich da ein Stück weit weg von Notfallmedizin im klassischen Sinne, aber wenn dann ein NotSan dafür 80% seiner Einsätze befriedigend für sich und Patienten abarbeiten kann, dann ist das besser, als wenn er gefrustet ist, weil er schon wieder Rückenschmerz transportiert (weil es keine Empfehlung, Scores, definierte Schnittstellen gibt).


    Diese Entwicklung wird eben auch Evidenz und Wissenschaft an seiner Seite benötigen, und scheint nicht die aktuellen Fachgesellschaften (und deren Sektionen) zu interessieren.

    Wenn der NFS zukünftig die ambulante Versorgung übernehmen soll, dann muss hierfür der politische Wille vorhanden sein und die Ausbildung entsprechend angepasst werden. Der Hinweis auf Scores und Empfehlungen (wenn... dann ...) deutet darauf hin, dass die Ausbildung aktuell für diese Tätigkeit unzureichend ist.

  • Hilope dein und mein Blick auf den Alltag im Rettungsdienst und den Problemen dort scheinen weit auseinander zu liegen. Logisch also, dass unsere Lösungsansätze ebenfalls weit auseinander liegen. ich bin gespannt wie sich das weiter entwickelt, mehr Fahrzeuge jeder Art können nicht die Lösung sein, und wenn ein LK oder eine Stadt Notrufe systematisch nicht mehr bedient geb ich dir gern n Bier aus.


    Auch habe ich UK nur herangezogen weil dort bei ähnlichen Bevölkerungsstrukturen die Belastung des Gesundheitswesen (u.A. wegen konservativem kaputtsparens in den letzten 12 Jahren) so hoch ist, das man andere Lösungen gesucht hat. Ich sage ja selber, dass das nicht unsere Lösungen seien müssen. Aber Lösungen brauchen wir. Und spätestens wenn die RTW Schlange stehen vor der ZNA, weil eben jeder transportiert wurde, und weil die ZNA das nicht abarbeiten können, dann wird man doch über ambulante Lösungen nachdenken. Und über NotSan die am KH vom anderen NotSan den Patienten übernehmen, damit der RTW wieder freigemeldet werden kann, weil die wartenden RTW sonst dem RD fehlen. Das sind Entwicklungen auf die wir zusteuern, wenn sich nicht was ändert.


    Konzepte wie der GemeindeNotSan, 116117 Anrufe mit NotSan beschicken (beides NDS), Social-Ambulance nach Dänischem Vorbild (Projekt in Berlin) zeigen ja auf, das bereits jetzt Rettungsdienst-Strukturen versuchen Lücken zu füllen. Eben weil am Ende der Rettungsdienst zu all den Fällen kommen wird, zu denen andere nicht kommen (können). Und schon jetzt versucht man die RTWs zu entlasten mit B-RTW, N-KTW oder NTW und ähnlichen Konzepten.


    Ich fand es ja auch cool wenn 50% meiner Einsätze auf RTW oder NEF NACA V und mehr wären. Das werden wir mit dem System aktuell aber nicht erleben. Also am Ende bleibt es wohl bei agree to disagree. In 5-10 Jahren kram ich den Thread nochmal hervor, und dann schauen wir mal, was passiert ist. :)

    Under pressure, you don't rise to the occasion. You sink to your level of training.

  • Ansonsten klingelt gleich wieder das Telefon bei Harris.

    Na toll, immer ich!

    Ich komme aus Ironien, das liegt am sarkastischen Meer.

  • Und spätestens wenn die RTW Schlange stehen vor der ZNA, weil eben jeder transportiert wurde, und weil die ZNA das nicht abarbeiten können, dann wird man doch über ambulante Lösungen nachdenken.

    Dafür ist es hier in Hannover schon zu spät. In bzw. an manchen Notaufnahmen wartet man 45 - 90 Minuten bis man seine Patienten übergeben kann.

    Ich komme aus Ironien, das liegt am sarkastischen Meer.

  • Konzepte wie der GemeindeNotSan, 116117 Anrufe mit NotSan beschicken (beides NDS), Social-Ambulance nach Dänischem Vorbild (Projekt in Berlin) zeigen ja auf, das bereits jetzt Rettungsdienst-Strukturen versuchen Lücken zu füllen. Eben weil am Ende der Rettungsdienst zu all den Fällen kommen wird, zu denen andere nicht kommen (können). Und schon jetzt versucht man die RTWs zu entlasten mit B-RTW, N-KTW oder NTW und ähnlichen Konzepten.


    Ich fand es ja auch cool wenn 50% meiner Einsätze auf RTW oder NEF NACA V und mehr wären. Das werden wir mit dem System aktuell aber nicht erleben. Also am Ende bleibt es wohl bei agree to disagree. In 5-10 Jahren kram ich den Thread nochmal hervor, und dann schauen wir mal, was passiert ist. :)

    Vielleicht bin ich als Aussenstehender des deutschen RD (kenne nur den schweizer RD wirklich gut) blauäugig oder falsch informiert.


    Sollte ich falsch liegen, bitte ich um Korrektur:

    Ist es nicht so, dass in DE der Einsatz des RD direkt mit der Krankenkasse verrechnet und komplett bezahlt wird? Ausserdem wird die Vorhalteleistung durch die KK finanziert, stimmt das?


    Sollte es wie oben beschrieben sein, sehe ich genau in diesem „rundum-sorglos-Paket“ aber einen grossen Schwachpunkt im System. Wenn ich persönlich nichts (direkt) für den Einsatz bezahlen muss, ist die (Hemm-)Schwelle den RD aufzubieten sicherlich relativ klein und die Einsatzzahlen, speziell bei Einsätzen, die eigentlich nichts für den RD sind, werden sicherlich nicht zurückgehen, egal wie viele Fahrzeuge man in Dienst stellt.

    Wieso auch? Ein Taxi ins Krankenhaus muss ich selber bezahlen, den RD nicht…


    Auch wir haben immer mal wieder Einsätze, die eigentlich nichts für den RD sind, diese halten sich allerdings zumindest in meiner Region in Grenzen.

    Ein Grund dafür ist sicherlich, dass die Vorhalteleistung nicht durch die Krankenkassen bezahlt wird, sondern der RD sich selber über die Einsätze finanzieren muss (ggf. mit einer Defizitgarantie der Gemeinde/des Kantons).

    Die Rechnung für den Einsatz geht immer direkt an den Patienten, welcher den Einsatz bezahlen muss, bevor er von der Krankenkasse eine Rückvergütung bekommt. In der Regel beläuft sich die Rückvergütung auf einen relativ niedrigen, pro Jahr begrenzten Anteil, sofern man keine entsprechende Zusatzversicherung hat.

    Als Beispiel: ein Primäreinsatz kostet bei uns in der Region pauschal CHF 1‘050, zzgl. CHF 7 pro gefahrenen KM. Nachts und am WE kommt noch ein Zuschlag von 25% dazu.


    Die Hemmschwelle, den RD für leichte Erkrankungen/Verletzungen aufzubieten, ist somit relativ hoch und wir sind mit verhältnismässig wenigen RTW’s für wirkliche Notfälle verfügbar.


    Mir stellt sich nun die Frage, ob eine Systemanpassung oder eine Änderung der Finanzierung u.U. zu einer deutlichen Entlastung des RD führen könnte, wo dann auch eine allfällige Akademisierung des NFS eher Platz hätte, da dann auch die Wahrscheinlichkeit von mehr Einsätzen mit NACA 5+, wie von dir gewünscht, steigen würde und sich somit Forschungsfelder z.B. für die (Mit-)Erarbeitung von RD-spezifischen Leitlinien und SOP‘s auftun.

  • Das was du nachfolgend beschreibst sind Grundlagen der Menschenführung. Ich glaube, das können viele RD bereits jetzt besser, und trotzdem wandern die Leute ab.

    Das sind die Grundsätze, das mag theoretisch so sein und doch sieht es an der Basis nicht selten anders aus. Mir sind mehrere Rettungsdienst im direkten Umfeld bekannt wo genau diese Grundsätze nicht oder nur teilweise umgesetzt werden und das tlw. mit einem entsprechenden "Aufführen" des ÄLRD. Werden die Grundsätze nicht eingehalten und oder ein ÄLRD verhält sich entsprechend, dann braucht man sich über die Fluktuation nicht wundern. Tatsächlich kommt das Gefühl der Fluktuation auch zunehmend in den umliegenden Rettungsdienstführungen an, tatsächlich ruht man sich aber auch bequem darauf aus, dass es immer noch andere gibt die kommen werden und den Rest fängt das vorhandene Personal auf.
    Die Grundsätze der Menschenführung müssen raus aus der Theorie und rein in die Praxis! Sie müssen zur Grundlage werden und das flächendeckend, dann gibt es auch echte Chancen das Personal zu halten. Schafft man es dann noch diese Grundsätze zu verbessern bzw. modernisieren, dann hat man auch Chancen in der Zukunft die Menschen zu halten.
    Was mir auch fehlt im Kampf um die Mitarbeiter ist, dass sich die Rettungsdienste zusammen tun und klar gegen einen innerklinischen Einsatz von Rettungsdienstpersonal und entsprechendes Lohndumping positionieren. Neben der Baustelle HA / ÄBD tut sich hier eine weitere für den Rettungsdienst auf und auch hier ist der Rettungsdienst dazu bereit das hin zu nehmen bzw. zu kompensieren.

    Die Rechnung für den Einsatz geht immer direkt an den Patienten, welcher den Einsatz bezahlen muss, bevor er von der Krankenkasse eine Rückvergütung bekommt. In der Regel beläuft sich die Rückvergütung auf einen relativ niedrigen, pro Jahr begrenzten Anteil, sofern man keine entsprechende Zusatzversicherung hat.

    Von der Idee halte ich ehrlich gesagt nichts, gerade wenn ich mir die Einsätze und Bevölkerung bei uns anschaue. Während die Einen dann wieder und noch mehr zurückstecken werden die Anderen das System dann weiter ausnutzen, da sie wissen das man ihnen nicht bei kommen kann. Ganz davon ab sehe ich einen extremen Kampf ums Geld auf die Rettungsdienste zukommen, was sich unter aktuellen Bedingungen dann auf die Bezahlung und Arbeitsbedingungen niederschlägt.
    Es braucht halt eine echte Verknüpfung von Rettungsdienst und (prä)klinischer Versorgung, wozu auch der Gedanken gehört ob es nicht auch Arztpraxen an Krankenhäusern bzw. von Krankenhäusern oder Landkreisen/Städten braucht.
    Im übrigen hat man das Ganze in Deutschland schon mal probiert, damals hieß das Ganze Praxisgebühr und ist krachend gescheitert. Knackpunkt war 1. die Bürokratie, 2. das man die "Lästigen" nicht los geworden ist und 3. einige wirklich kranke nicht mehr (so oft) zum Arzt sind und es dadurch Probleme gab.

  • Von der Idee halte ich ehrlich gesagt nichts, gerade wenn ich mir die Einsätze und Bevölkerung bei uns anschaue. Während die Einen dann wieder und noch mehr zurückstecken werden die Anderen das System dann weiter ausnutzen, da sie wissen das man ihnen nicht bei kommen kann. Ganz davon ab sehe ich einen extremen Kampf ums Geld auf die Rettungsdienste zukommen, was sich unter aktuellen Bedingungen dann auf die Bezahlung und Arbeitsbedingungen niederschlägt.

    Ich sehe den Zusammenhang von Lohndumping und der von sebihu geschilderten Vorgehensweise nicht.

    Ich sehe die Vorteile, wenn man zunächst die Rechnung (bei Krankheit) selber bezahlen muss und sich dann um eine Rückerstattung kümmern muss. Seither weiss ich, dass ich frage, was gemacht werden soll (z.B. der Norotest ist abartig teuer). Interessant ist, dass auch die „normale Bevölkerung“ dadurch kritisch geworden ist.

  • Knackpunkt war 1. die Bürokratie, 2. das man die "Lästigen" nicht los geworden ist und 3. einige wirklich kranke nicht mehr (so oft) zum Arzt sind und es dadurch Probleme gab.

    Wobei man bei der Aussage aufpassen muss. Die Gelackafften waren nämlich die chronisch kranken Patienten, die regelmäßig zum Arzt mussten (nicht wollten). Und nicht alle von denen waren von Zuzahlungen usw. befreit.

    Ich komme aus Ironien, das liegt am sarkastischen Meer.

  • Ich sehe den Zusammenhang von Lohndumping und der von sebihu geschilderten Vorgehensweise nicht.

    Der Zusammenhang entsteht dadurch, dass der Rettungsdienst zu spät erhaltenes oder nicht erhaltenes Geld kompensieren muss bzw. das im Vorfeld kompensieren will und das geht am einfachsten an der Basis.

    Ich sehe die Vorteile, wenn man zunächst die Rechnung (bei Krankheit) selber bezahlen muss und sich dann um eine Rückerstattung kümmern muss.

    Daran wird aber mancher durchaus scheitern, da es schon aktuell für viele eine echte Hürde ist bei Behörden und Kassen ihren berechtigten Anspruch einzureichen und durchzusetzen. Gerade für chronisch Kranke und oder sozialschwache wird es dann eine zunehmende Hürde geben den Rettungsdienst zu rufen und gerade die sind es doch, die ihn ggf. wirklich brauchen.

  • _BC_ ich bekomme mein nicht schlechtes Gehalt im Rettungsdienst immer pünktlich.


    Und die Erfahrung zeigt, dass gerade die „Sozialschwachen“ und chronisch Erkrankten (über die sog. IV) deswegen beraten werden und entsprechend über die Versicherungen doch abgedeckt werden.

  • _BC_ ich bekomme mein nicht schlechtes Gehalt im Rettungsdienst immer pünktlich.


    Und die Erfahrung zeigt, dass gerade die „Sozialschwachen“ und chronisch Erkrankten (über die sog. IV) deswegen beraten werden und entsprechend über die Versicherungen doch abgedeckt werden.

    genau so ist es.


    Deswegen ist, zumindest mir bekannt, noch nie jemand um eine adäquate und anderen Personen gleichgestellte Behandlung gekommen.


    Auch bezüglich Lohndumping kann ich dir aus eigener Erfahrung nicht zustimmen. Mir ist in der Schweiz kein Rettungssanitäter bekannt, welcher bei einer Vollzeitanstellung Ende Monat nicht mindestens einen mittleren bis hohen vierstelligen Betrag nach Hause bringt. Dass man sich an dieses System zuerst gewöhnen muss, ist mir klar.


    Ich bin nach wie vor von „unserem“ System überzeugt und glaube, dass dieses uns die Entlastung gegenüber unseren Nachbarn bringt. Dafür ist aber viel Wille, vor allem auch politischer Natur nötig.

  • Ich bin der Meinung, dass der Rettungsdienst zur Daseinsvorsorge gehört und daher dem Patienten nicht in Rechnung gestellt, bzw. über die Einsatzzahlen finanziert werden darf. Was dabei raus kommt, sieht man bei den Kliniken und in der Altenpflege.

    Zu der Information über die Kosten gab es schon einmal einen Vorstoß, Kassenpatienten jedes Quartal eine Aufstellung über die erbrachten Leistungen und die daraus enstandenen Kosten zukommen zu lassen. Wurde von der Ärzteschaft abgelehnt, da der Patient nicht in der Lage sei, den Umfang durchgeführter Behandlungen zu interpretieren.

  • Ich sehe die Vorteile, wenn man zunächst die Rechnung (bei Krankheit) selber bezahlen muss und sich dann um eine Rückerstattung kümmern muss. Seither weiss ich, dass ich frage, was gemacht werden soll (z.B. der Norotest ist abartig teuer). Interessant ist, dass auch die „normale Bevölkerung“ dadurch kritisch geworden ist.

    Wenn man jetzt schon sieht, was für Kämpfe Patienten für die Bezahlung oder Zuschüsse für medizinische Hilfsmittel mit den Kassen austragen müssen, wobei es meistens um einige hundert Euro geht, kann ich mir gut vorstellen, was hier los ist, wenn Patienten vier- oder fünfstellige Beträge vorstrecken sollen, die dann irgendwann mal (vielleicht) erstattet werden. Entweder hat man eine Versicherung, zu der man übrigens per gesetzlichem Zwang verpflichtet ist, dann hat die auch zu zahlen, oder man stellt auf komplett privat um.


    Und die Erfahrung zeigt, dass gerade die „Sozialschwachen“ und chronisch Erkrankten (über die sog. IV) deswegen beraten werden und entsprechend über die Versicherungen doch abgedeckt werden.

    Schön, dass wenigstens die Versicherungsindustrie noch ein Geschäft dabei machen kann.


    Da lobe ich mir bei allen Unzulänglichkeiten und dem teilweise Ausnutzen des Systems doch unser solidarisches Gesundheitssystem.

  • Gerade für chronisch Kranke und oder sozialschwache wird es dann eine zunehmende Hürde geben den Rettungsdienst zu rufen und gerade die sind es doch, die ihn ggf. wirklich brauchen.

    Der typischen Szene rund um den Hauptbahnhof / ZOB und Amtsgericht kann der Rettungsdienst nicht wirklich helfen.

    Ich komme aus Ironien, das liegt am sarkastischen Meer.