Kritik der Stuttgarter Ärzteschaft: Rufnummer 116 117 – "Patienten kommen nicht durch"

  • Stuttgarter Nachrichten, 04.11.2022:

    Kritik der Stuttgarter Ärzteschaft: Rufnummer 116 117 – "Patienten kommen nicht durch"

    Zitat

    Nicht nur Patienten klagen über die schlechte Erreichbarkeit des ärztlichen Notdienstes. Auch die Ärzteschaft in Stuttgart schlägt Alarm: Notfälle werden nicht erreicht, die Kliniknotaufnahmen laufen mit Patienten voll. So könne es nicht weitergehen.

    Zum Hintergrund: Im vergangenen Jahr hat die KV in Baden-Württemberg für die Rufnummer 116 117 zwei Callcenter eingerichtet, auf denen diese Rufnummer aufläuft. Zuvor war die Rufnummer (fast?) landesweit aufgrund Vereinbarungen mit den Trägern der Integrierten Leitstellen auf die ILS geschaltet. Das hatte nachvollziehbare Synergieeffekte, weil ggf. eine Rücksprache auf dem kurzen Dienstweg möglich war und daneben Anrufe auf der 112 an den vertragsärztlichen Bereitschaftsdienst weitergegeben oder direkt statt mit einem Rettungsmittel mit diesem beschickt werden konnten, und umgekehrt. Zudem waren Anrufer, denen die Wartezeit auf den vertragsärztlichen Bereitschaftsdienst zu lange erschien und die sich dann an die 112 gewandt haben, unmittelbar erkennbar. Diese Synergieeffekte sind mit dem Wechsel natürlich weggefallen. Meiner Kenntnis nach ist auch eine Weitergabe von Gesprächen von der ILS an den vertragsärztlichen Bereitschaftsdienst (oder umgekehrt) nicht möglich; vielmehr muss der Anrufer weiterverwiesen oder der Einsatz weitergegeben werden.


    Unabhängig davon sind aber (so der Inhalt des Artikels, der primär auf Angaben eines anonymen Vertragsarztes besteht und mit Stimmen aus der Ärzteschaft, der KV, den Kliniken und dem DRK ergänzt wird) offenbar die Callcenter auch nicht in der Lage, Anrufe in einem vertretbaren Zeitrahmen anzunehmen. Nach Angaben der KV gebe es zu Spitzenzeiten Wartezeiten von 5-10 Minuten, nach Angaben der Ärzteschaft lägen diese eher im Bereich von 30-60 Minuten. (Wohlgemerkt: Nicht bis der Hausbesuchsarzt kommt, sondern bis man am Telefon zum Callcenter durchkommt.) Die Notaufnahmen der Kliniken und die Leitstellen klagen über eine hohe Zahl nicht indizierter Patientenkontakte oder Notrufe (Bagatelleinsätze im RD ~ 20%), weil die Patienten dann stattdessen die 112 anrufen oder eine Notaufnahme anrufen. Die Einsatzzahlen der eingeteilten Hausbesuchsärzte seien dafür merkbar gesunken. Immerhin hätten mittlerweile Altenpflegeeinrichtungen einen Code zur direkten Durchwahl erhalten.


    Vom Hörensagen habe ich letzres Jahr und Anfang diesen Jahres erfahren, dass das noch nicht für die Leitstellen gelte, die daher bei der Weitergabe von Einsätzen ebenfalls mit langen Warteschleifen zu rechnen hätten, was eine Abgabe des Einsatzes an den vertragsärztlichen Bereitschaftsdienst oft nicht realistisch erscheinen lasse. Daneben soll es so sein, dass die Abgabe auf dem umgekehrten Weg (also eines von der 116 117 aufgenommenen Einsatzes an die ILS) nicht immer medizinisch nachvollziehbar sei. (Aber gut, das man für beide Seiten gelten, das kennt man ja.)

  • Die Ärzteschaft hat sicher recht mit ihrer Kritik, dass die KV-Zentralen schwer erreichbar sind. Da eine dieser Zentralen in unserer Stadt betrieben wird, wird hier auch seit dem ersten Tag permanent um Personal geworben. Und offensichtlich findet sich nicht ausreichend welches, die Anzeigen waren noch nie vom Markt verschwunden.


    Allerdings müsste die Ärzteschaft auch ihre eigene Rolle etwas kritischer hinterfragen. Hier gibt es Ärzte, die berühmt dafür sind, dass sie Anrufe grundsätzlich abwimmeln, wenn sie Bereitschaftsdienst haben. Dass diese Patienten dann ihrem Rat folgen „wenn es schlimmer wird, rufen sie den Rettungsdienst“ kann man den Patienten dann halt auch nicht vorwerfen.


    Es geht halt einfach nicht, wenn sich eine Gruppe in einem Gesamtsystem das Recht rausnehmen darf, einfach nicht aktiv werden zu wollen.


    Das betrifft bei weitem nicht alle Ärzte die Bereitschaftsdienst machen, scheint aber auch keine Einzelausnahme zu sein.


    Zumindest sind die Einsätze der Kategorie „ÄBD-Ersatz“ im Rettungsdienst sprunghaft angestiegen.

  • Ist in NRW aber nicht anders. Selbst mit der streng geheimen Direktdurchwahl wartet man in der Regel 5-10min.

    Ansonsten deutlich über 30min Warteschlange, teilweise fliegt man aus der auch wieder raus und wird gar nicht durchgestellt. Absolutes Desaster..

  • Hier setzt sich gerade eine neue Variante durch. Man ruft den ÄBD für den Patienten. Der Arzt ruft innerhalb weniger Minuten beim Patienten an und sagt ihm, er soll sich doch vom Krankenwagen mitnehmen lassen.

    You know as well as I do decisions made in real time are never perfect. Don't second-guess an operation from an armchair. [Noah Vosen]

    Oldschool EMS. The Gold Standard of Ass Kickin'!

  • Hier setzt sich gerade eine neue Variante durch. Man ruft den ÄBD für den Patienten. Der Arzt ruft innerhalb weniger Minuten beim Patienten an und sagt ihm, er soll sich doch vom Krankenwagen mitnehmen lassen.

    Voll gut, so kann der Arzt noch einen Patientenkontakt/Beratung abrechnen...

  • In Niedersachsen bzw. im Raum Hannover auch so. Wartezeiten von 30 min und länger. Kurze Wege, wie früher, sind nicht mehr möglich. Zuständiger Callcenter für den Raum Hannover hat seinen Sitz in Duisburg.

    Ich komme aus Ironien, das liegt am sarkastischen Meer.

  • der Artikel trägt viel Wahrheit in sich… ein weiteres Problem in den Call Centern ist das wording…

    Sag mal auf der 116 117 das schwäbische „i bekomm schlecht Luft…“ des dauert dann noch 5-15 min und der NAW steht vor der Tür… obwohl der gute Anrufer nur eine verstopfte Nase hat. Auf den Leitstellen wurde genauer nachgefragt, bei der 116117 hört die Abfrage auf und es wird ein Notfall gemeldet. Auch auf Hinweis der Anrufer das ein Arzt ausreicht, das dass Schwäbische „i bekomm schlecht Luft“ gemeint ist, konnten diese die Maschinerie nicht aufhalten. Der positive synergieeffekt wurde mit der Trennung radikal beseitigt.
    Für mich könnte man die Situation unter verschlimmverbessern einordnen…

  • Man muss halt auch die Qualifikation der Leute ansehen - ich kenne Leute die im KV Callcenter in Sachsen arbeiten.

    Deren Einstellungsvoraussetzung ist "irgendwas mit Medizin" (im Fall meines Bekannten 3tes Semster Med.Studium, er hat auch abgebrochene MFAs dabei, etc.). Ausbildung quasi keine, einfach "ab ins das Haifischbecken".

    Weitergehende Qualifikationen wie Englisch, etc. sind nicht erforderlich.


    Muss man sich dann halt auch nicht wundern.


    Wir kriegen halt das wofür wir bezahlen...

  • Hier setzt sich gerade eine neue Variante durch. Man ruft den ÄBD für den Patienten. Der Arzt ruft innerhalb weniger Minuten beim Patienten an und sagt ihm, er soll sich doch vom Krankenwagen mitnehmen lassen.

    Aus Erfahrung kann ich Dir sagen das sich diese Variante festigen wird.:P

    Ansonsten ist das nur ein weiteres Symptom im Sterbeprozess des Gesundheitswesens. Austherapiert sozusagen....

    :rtw: "Rettungsdienst" sind die Typen, die zu einem kommen, wenn man etwas getan hat, wofür man eigentlich zu dämlich ist. :rtw:

  • Das gilt auch hier im Bereich des Hochdeutschen. Nur die Andeutung von leichter Atemnot und es wird die 112 verständigt, allerings dann "nur" ein RTW. Die Computerabfrage des Callcenters ist da unerbittlich.

  • Ich erzählte hier schon mal, dass eine Dame der 116117 mir ein Hilfeersuchen verbinden wollte, da ihr PC-unterstützes Abfragesystem abgestürzt war und sie keine Entscheidungen treffen konnte ohne diese. Ich habe das Gespräch dann übernommen auf ihr Bitten mit dem Hinweis, dass ich auch ohne Computerprogramm Entscheidungen treffen kann. Naja...

    Ich komme aus Ironien, das liegt am sarkastischen Meer.

  • Kann alles gesagte nur bestätigen. Auch bei uns ist ein Anstieg der Low-Code Einsätze zu verzeichnen, die initial beim ÄND aufgelaufen sind oder denen die Warterei in der Warteschlange zu lange ging. Bestes Beispiel aus dem gestrigen Nachtdienst: Ich möchte gerade meinen Patienten im KH anmelden, der Kollege dort bekommt einen Anruf von einem wütenden Bürger, der seit geraumer Zeit in der Warteschlange der 116117 hängt und jetzt einen RTW und NA wünscht. Über das Krankenhaus organisiert. Ob da noch ein RTW hingefahren ist? Bestimmt, ich war es zum Glück nicht...

    Die Transporte zum ÄND, der bei uns an den Grund- und Regelversorger angegliedert ist, nehmen auch zu. Habe gar keine Schmerzen damit die Leute da hin zu fahren. Natürlich kann man nicht alles aus der ZNA fernhalten, manchmal kommen die Patienten schon wieder rüber in die ZNA wenn ich meinen Schein noch schreibe...gnah!

    Bei uns fahren die Ärzte des ÄND z.B. bei Cov-19+ nicht raus und dann kommen wir ins Spiel...erhöht das Frustrationslevel ungemein und bin da total bei SanSold - Austherapiert. Fehlt nur noch der Gnadenschuss...

  • Bei uns fahren die Ärzte des ÄND z.B. bei Cov-19+ nicht raus

    Da würde mich die Meinung der Landesärztekammer interessieren.

    You know as well as I do decisions made in real time are never perfect. Don't second-guess an operation from an armchair. [Noah Vosen]

    Oldschool EMS. The Gold Standard of Ass Kickin'!

  • Gegenfrage: Interessiert die Landesärztekammer unsere Meinung?


    Ich hab es mal auf dem Radar falls mir noch einmal so ein Fall unter die Fittiche kommt.

  • Gegenfrage: Interessiert die Landesärztekammer unsere Meinung?

    Meiner Erfahrung nach interessiert sich die Landesärztekammer sehr für das Verhalten von Ärzten. Und was mich interessieren würde, wäre, wer die Entscheidung gefällt hat, dass der ÄBD nicht zu Covid-Patienten fährt.

    You know as well as I do decisions made in real time are never perfect. Don't second-guess an operation from an armchair. [Noah Vosen]

    Oldschool EMS. The Gold Standard of Ass Kickin'!

  • Meiner Erfahrung nach interessiert sich die Landesärztekammer sehr für das Verhalten von Ärzten. Und was mich interessieren würde, wäre, wer die Entscheidung gefällt hat, dass der ÄBD nicht zu Covid-Patienten fährt.

    Einer hat damit angefangen. Der wollte kein unnötiges Risiko eingehen.

    Bei dem hats funktioniert, andere haben es abgekupfert.

    Schon wurde da ne generelle Verhaltensweise drauß.

  • In RLP ist die Erreichbarkeit des ÄBD genau so schlecht wie in den anderen hier geschilderten Fällen. Das reicht von langer Warteschleife bis zum Rausfallen aus selbiger nach 3 Minuten. Manchmal kann die Leitstelle eine direkte Verbindung herstellen, manchmal nicht, manchmal funktioniert die geheime Direktnummer, manchmal nicht.


    Laut Herrn Gassen ist die 116117 abgesehen von einem eher nebensächlichen Personalmangelproblem der Call Center, welches nur zu unwesentlichen Verzögerungen führt, ein voller Erfolg. Die Briefe und Mahnung inzwischen diverser Fachgesellschaften bzgl. der Problematik der Nicht-Erreichbarkeit scheinen nicht bei ihm anzukommen, oder er kann sie intellektuell nicht verarbeiten.

  • Einer hat damit angefangen. Der wollte kein unnötiges Risiko eingehen.

    Bei dem hats funktioniert, andere haben es abgekupfert.

    Schon wurde da ne generelle Verhaltensweise drauß.

    Das war in RLP in der Hochphase der Pandemie die Gesetzeslage und kein Gutdünken. Das war zum damaligen Zeitpunkt bei hohen Infektionszahlen einer sehr gefährlichen Variante auch durchaus sinnvoll, um weitere Infektionen zu verhindern.

    Ob dies aktuell immer noch so geregelt ist, kann ich nicht sagen.