Als jemand der die ersten Projekte ja auch etwas mitbegleitet hat und andere, ähnliche, Projekte aus anderen Ländern kennt:
Es ist halt eine Frage des Systemdesigns und der eigenen Denke.
Und da verstehe ich beide Seiten absolut.
Wir haben in Deutschland ein System, in dem viele viele Jahre wenige, oft sogar gar keine, Maßnahmen durch das ärztliche Personal geduldet wurden und auch die "Öffnung" im Rahmen des NotSan Systems wird sowohl auf Ebene der Verbände als auch regional/lokal mitunter bis auf das Blut bekämpft. (Und da schaue ich nicht nur nach Bayern, dort schaut es tatsächlich besser aus als der Ruf).
Im Gespräch mit Vertretern dieser "Ärztefront" wird klar, dass es durchaus reale Bestrebungen gibt, dass man den "Sanitäter" so wieder unter "Aufsicht" stellt (O-Ton eines Vertreters eines Verbandes). Ein ÄLRD(eine mittelgroßen Stadt in NRW) hat mir gegenüber mal folgenden Satz gelassen: "Ich verstehe den Aufwand mit der Delegation und so gar nicht, warum soll ich das machen wenn ich einfach sagen kann, dass jede Medikamentengabe durch den TNA genehmigt werden muss."
Es gibt hier ganz klar Bestrebungen einiger Bereiche und ÄLRD hier dem NotSan enorm auf die Finger zu schauen.
Das wird auch aus manchen geplanten oder "angedachten" Indikationslisten für TNAs sichtbar, im Folgenden einmal die offizielle Strukturempfehlung:
- Hypertensive Entgleisung
- Schmerztherapie bei nicht lebensbedrohlichen Verletzungen/Erkrankungen
- Schlaganfall (ohne Bewusstlosigkeit)
- Hypoglykämie
- Hilfestellung bei unklaren Notfällen
- Hilfestellung bei EKG-Interpretation
- Transportverweigerung
- Sekundärverlegungen nach definierten Kriterien
- Zur Überbrückung bis zum Eintreffen des Notarztes grundsätzlich,
- sofern die Notfallsituation eine Konsultation erlaubt.
Klipp und klar gesagt: Wenn ich einen NotSan für eine hypertensive Entgleisung, einen Schlaganfall oder eine Hypoglykämie sowie zur Transportverweigerung einen TNA holen lasse kann ich es gleich sein lassen.
Auch im Aachener Projekt wurde von Seiten der ärztlichen Vertretungen oftmals das primäre Ziel formuliert die regulären NEF weniger zu belasten.
"Das Ziel des Telenotarztes sei nicht, den Notarzt zu ersetzen, sondern Notarztzeit freizumachen"
Ich kann daher die Skepsis der Kolleginnen und Kollegen durchaus verstehen.
Oftmals wird in Sachen Telenotarzt von den verantwortlichen Personen stark mit gespaltener Zunge gesprochen. In Richtung Notärzteschaft spricht man von "Kontrolle behalten" und "NA freihalten". In Sachen Rettungsfachpersonal von "Qualitätssicherung" und "mehr Kompetenzen (pseudo)alleine".
ABER:
Natürlich kann ein Telenotarztsystem wie jede Art von "Backup" eine sinnvolle Ergänzung darstellen.
Um es einmal an einem australischen Beispiel festzumachen:
Bei meinem australischen Ex-Arbeitgeber sitzen 24/7 die sogenannten "Clinical support paramedics" in der Leitstelle. Es handelt sich hierbei um speziell fortgebildete und langjährige Paramedics (im Regelfall mittlerweile mit einem M.sc.) die einerseits das Einsatzgeschehen "monitoren", andererseits für Rückfragen zur Verfügung stehen (sowohl der Calltaker als auch der Crews auf der Straße).
Das "Monitoring" sieht so aus, dass der Clinical Support "besondere" Fälle identifiziert und diese ggf. recherchiert. Das kann der Vergiftungsnotfall sein, die Kinderrea (Größenangaben und Medikamentendosierungen) aber auch das orphan disease. Diese Info erhält der Para der "Road crew" entweder per Telefon oder Tablet vorab. Es entbindet nicht vom "selber denken", aber es ist eine Hilfe, ein Support eben - es besteht keinerlei Weisungsbefugnis.
Umgekehrt kann die Road-crew wenn es sich um eine unklare Situation, einen nicht in den Protokollen definierten Zustand oder auch falls die Maßnahmen der Protokolle nicht ausreichen an den Support wenden und dieser hält entweder Rücksprache mit Spezialisten, holt die notwendige Freigabe ein oder gibt einfach aus seiner Einsatzerfahrung Rat (oft hilft ja schon das "Rubber ducking").
Nutzt man den TNA so, also als "Backup","Support" und als "Erweiterung" für die seltenen, schwierigen und unklaren Fälle ist er hilfreich und ein unheimlich mächtiges Tool. Aber ich kann die Skepsis vieler NotSans absolut verstehen. Auch wenn ich den Stand im Großraum Aachen durchaus als gut bezeichnen würde - sind es anderswo gerade die repressivsten Ecken des Landes die nun sehr stark danach schreien. (So auch in meinem Bundesland)
Und wenn dann der TNA als Vorwand genommen wird, das BtmG nicht zu ändern (Blick in Richtung SPD/CDU) um NotSan die Gabe von Analgetika zu ermöglichen, als "Verweigerungshotline" und als "Freigabe für alles einholen". Dann ist das kein Rückschritt sondern berufspolitisch, aber auch im Sinne der Patientenversorgung einfach nur eine Katastrophe.