Zitat
In der Sache kann ich das sehr gesteigerte Interesse in der Türkei angesichts der NSU-Mordserie absolut nachvollziehen.
Das Interesse schon. Den geltend gemachten Anspruch auf eine Sonderbehandlung aber nicht, insbesondere nicht deren Einforderung durch den Versuch politischen Drucks auf ein Gericht - man hofft, dass das auch in der Türkei nicht funktionieren würde.
Unser Recht sieht die Reservierung eines Sitzplatzes im Gerichtssaal weder für den Botschafter der Türkei noch für den Ministerpräsidenten noch sonstwen vor. Es sieht auch sonst keine Sonderregelungen für Zuschauer vor - und das ist auch konsequent, weil der Strafprozess nämlich nicht für die Zuschauer und die Presse veranstaltet wird, sondern umgekehrt die Zuschauer dem Strafprozess dienen, indem sie ihn kontrollieren und Geheimprozesse verhindern - zum Schutz des Angeklagten! Dafür schadet es aber nicht, wenn im Saal nicht nur "wichtige Leute", sondern "das Volk" sitzt - im Gegenteil. Das spricht auch gegen die Wahl eines größeren Saales in einem Veranstaltungszentrum o.ä. Dem deutschen Strafrecht sind Schauprozesse fern. Das Verfahren soll die materielle Wahrheit und die individuelle Schuld des Angeklagten ermitteln und ihn dann der seiner Schuld entsprechenden Strafe zuführen, nicht aber die Neugier der Öffentlichkeit stillen. Vieles spricht dafür, dass der Presserummel bei großen Prozessen dieses Ziel verfehlt (Kachelmann) - man wird darüber nachzudenken haben, die Vorschriften über die Prozessöffentlichkeit dem anzupassen.
Hinzu kommt, dass Presseinstitutionen teilweise ja durchaus bereit waren, Korrespondenten einzusetzen, die sonst für türkische Medien schreiben; das genügte aber nicht, man wollte "offiziell" dabei sein. Außerdem ist es ja nicht so, dass der Presse nur 50 Plätze zur Verfügung stehen - ihr sind 50 Plätze reserviert. Dann muss man eben früh genug erscheinen, wenn man einen Platz haben will ... Abgesehen davon weiß jeder, der mal einen großen Strafprozess erlebt hat, dass es am ersten und am letzten Tag voll ist, vielleicht noch an den letzten Tagen wegen der Plädoyers, vielleicht noch einmal bei bestimmten Beweisthemen - in der Regel ist es aber während der Laufzeit eines Prozesses gähnend leer. Weder die Presse noch sonstwer hat nämlich Zeit und Lust, sich über Monate hinweg die Beweisaufnahme anzusehen und anzuhören. Das wäre allerdings zur Erreichung des angeblichen Ziels einer Kontrolle erforderlich.
Dabei ist noch nicht berücksichtigt, dass der Saal sogar deutlich mehr als 100 Plätze hätte, von denen eine große Zahl den Nebenklägern und ihren Anwälten reserviert ist. Das ist im übrigen auch eine Fehlentwicklung des Strafprozesses, die ihm keinesfalls gut tut - jedenfalls gewinne ich zunehmend diesen Eindruck. Es dient weder der Sachaufklärung noch der Gerechtigkeit, wenn sich auf beiden Seiten Parteien mit persönlichen Interessen unversöhnlich gegenüberstehen, jeweils mit Rechtsanwälten versehen, die nicht der Sache, sondern ihrer Partei (und manchmal, könnte man denken, der eigenen Publicity) verpflichtet sind. Gut gemeint, furchtbar schlecht bekannt. Gar nicht in erster Linie deswegen, weil damit die Anzahl det Verfahrensbeteiligten stark erhöht wird, was sich ja nicht nur an den benötigten Sitzplätzen, sondern vor allem auch an der deutlichen Verlängerung jeder Zeugenvernehmung und der Plädoyers zeigt - erfahrungsgemäß praktisch ohne jeden Gewinn in der Sache.
Es mag psychologisch sinnvoll sein, dass zu einer Sache nicht nur alles gesagt wird, sondern auch von jedem - dem Strafverfahren und seinen Zwecken und Zielen dient das nicht, und die psychologische Aufarbeitung der Tat in der Konfrontation mit dem (mutmaßlichen!) Täter kann nicht Aufgabe des Strafprozesses sein, schon deshalb nicht, weil der Angeklagte sich dieser nicht entziehen kann, aber zur Aufarbeitung so wenig gezwungen werden darf wie die Nebenkläger.
-thh