Jan Waldorf - du schreibst, dass sich der rettungsdienstliche Alltag NICHT mit SOP bewältigen lässt (sinngemäss, sonst korrigiere mich bitte).
Jetzt möchte ich, nach meinem Verständnis, die SOP als eine unverrückbare Anweisung definieren, im Gegensatz zu einem Algorithmus, der einen „roten Faden“ darstellt und situationsbedingte Abweichungen zulässt.
Ich selber arbeite mit beiden Systemen, so haben wir eine SOP „Abbruch einer Reanimation ohne ärztliche Präsenz“. Diese habe ich zu befolgen. Ansonsten arbeite ich mit Algorithmen (in diesem Falle modifizierte SMEDREC) und diese ermöglichen mir eigentlich alle gängigen Situationen (legal) zu bewältigen, mit einem situativen Freiraum.
Ich würde dir (wenn ich dich richtig verstanden habe) zustimmen, dass SOP (ähnlich wie in den USA) nicht die Lösung sind, aber vernünftig aufgestellte Algorithmen funktionieren zu 98%.
OK, da habe ich unsauber argumentiert und nicht strikt zwischen SOP und Algorithmen differenziert. Nach einhelliger Meinung mehr oder minder aller mir bekannten Juristen darf eine SOP letztlich keinerlei eigene Ermessens- oder Entscheidungsspielräume eröffnen, so dass letztlich in der Tat eine absolute Verbindlichkeit gegeben ist. Allerdings: Viele der mir bekannten SOP lassen solche Spielräume (zu erkennen an Worten wie "oder" bzw. "erwäge"), so dass es sich letztlich eher um Algorithmen handelt. Was Algorithmen mit "situativem Freiraum" angeht sind wir vermutlich völlig einer Meinung - diese bieten Sicherheit & eine Entscheidungshilfe in zeitkritischen Situationen, gleichzeitig (in gewissen, aber meist durchaus akzeptablen Grenzen) aber auch eine Möglichkeit zu einem situationsadäquat angepassten Vorgehen bei Zustandsbildern welche vom beschriebenen Ausgangsszenario abweichen. Nur: Genau diesen Handlungspielraum möchte der deutsche Gesetzgeber dem NotSan allem Anschein nach nicht gewähren.
Ebenso SAA Schmerz. Ich habe mehrere Präparate, ich darf frei wählen.
Genau damit handelt es sich aber nicht mehr um eine SOP i.e.S. - und um genau diese Entscheidungsspielräume geht es letztlich.
Was jetzt gefordert werden muss, und wo ich am meisten genervt von bin, ist dieses Denken auf der lokalen Arbeitsebene. Es gibt hier einige ÄLRD um uns herum, da dürfen die Kollegen so gut wie nix.
Ein Problem, welches ich weiter oben ja bereits beschrieben hatte & die Kollegen in den Nachbarlandkreisen sind damit bundesweit betrachtet in bester Gesellschaft.
Ich verstehe hier ehrlich gesagt nicht, wo einige das Problem sehen...
Es soll doch bevorzugt nach SOPs gearbeitet werden, und diese zählen als Delegation und sind somit auch rechtssicher.
Und genau das bestreite (nicht nur) ich. So formulierte z.B. der in Rettungsdienstkreisen nicht ganz unbekannte Jurist Thomas Hochstein in seinem Vortrag "Was darf der Notfallsanitäter?" zum Thema "eigenständige Durchführung im Rahmen der Mitwirkung": "Am ehesten handelt es sich wohl um eine Form der Vorab oder Generaldelegation. Eine solche kennen Rechtslehre und Rechtsprechung bisher aber nicht." Genau die Juristen, die nun versuchen, die Vorab- oder Generaldelegation als Mittel der Wahl zu verkaufen, sind jene, welche bis vor kurzem medienwirksam behauptet haben, dass genau dies innerhalb der deutschen Rechtsordnung kaum möglich sei. Weitere Zitate aus dem gleichen Vortrag:
- "Die in § 4 Abs. 2 Nr. 2 c) NotSanG vom Gesetzgeber vorausgesetzte Vorabdelegation schafft rechtlich mehr Probleme als sie löst."
- "Es gibt dazu nicht nur keine Rechtsprechung sondern auch keine gesicherte Lehrmeinung"
- "Es ist fast unmöglich, sinnvolle SOPs zu schaffen, bei denen der NotSan keine Indikation stellen muss." (Mit "Indikationsstellung" ist hier letztlich die Ausübung von Heilkunde gemeint!)
- "Die Bundesregierung wollte stattdessen die Delegationslösung auf die Notfallversorgung ausweiten. Diese Lösung stößt aber auf die geschilderten
rechtlichen Schwierigkeiten in der praktischen Umsetzung."
Dann noch ein paar Zitate aus dem durchaus aufschlussreichen Aufsatz "Tätigkeit als Notfallsanitäter im öffentlichen Rettungsdienst - Anwendung von Maßnahmen zur Lebensrettung und zur Abwehr schwerer gesundheitlicher Schäden, veröffentlicht in der "Notfall + Rettungsmedizin" im Jahr 2015, Co-Autor der meinerseits sehr geschätzte Michael Neupert:
- "Lesen kann man in der Gesetzesbegründung allerdings auch, Notfallsanitäter sollten durch § 4 Abs. 2 Nr. 2 c) NotSanG auf eine Tätigkeit im Rahmen der Delegation ärztlicher Aufgaben vorbereitet werden. Die Delegation ärztlichen Handelns ist nach etablierter juristischer Sichtweise durch einen starken Bezug zum Einzelfall geprägt, bei welcher ein Arzt die Indikationsstellung und die daraus folgenden medizinischen Anordnungen sowie die Personalauswahl jedes Mal konkret verantwortet und lediglich die Durchführungsverantwortung auf paramedizinisches Fachpersonal übergeht. Diese etablierte Sichtweise greift auch der Text des NotSanG auf, indem er von einer Mitwirkung bei Standardmaßnahmen spricht, welche der ÄLRD „verantwortet“. Wie ein ÄLRD eine Verantwortung für konkrete Maßnahmen ohne Einzelfallprüfung tragen soll, ist dabei nicht ersichtlich; eine standardisierte Vorgabe wird schwerlich im Sinne eines „abstrahierten Entscheiders“ den delegierenden Arzt ersetzen können."
- "Dass der Gesetzgeber etwa „en passant“ mit dem NotSanG von den bekannten Grundsätzen der Delegation ärztlichen Handelns abweichen und eine ganz neue Delegationsform begründen wollte, deutet er nicht einmal an"
- "Sinnvollerweise kann man das Gesetz daher nur so verstehen, dass der Gesetzgeber die üblichen Regelungen der Delegation und damit einen dem NotSanG vorausliegenden rechtlichen Rahmen in Bezug nehmen wollte. Dies bedeutet im Ergebnis, die Kombination aus Gesetzesbegründung und Formulierung eines Ausbildungsziels sind als Vorbereitung des Rettungsfachpersonals auf andere Erlaubnistatbestände zu verstehen."
...rechtssicher?
Und wie ich schrieb, man kann die SOP auch weiträumig verfassen und muss nicht unbedingt alles mit Werten fixieren.
Das halte ich für schwierig. Denn dann handelt es sich wie o.a. streng genommen um Algorithmen, welche wiederum eigene Entscheidungsspielräume eröffnen. Und genau die sind ja offenbar nicht gewollt und nach herrschender Rechtslage vermutlich auch nicht zulässig.
Ehrlicher Weise habe ich den Eindruck, dass viele beim Ruf nach einheitlichen Vorgaben einerseits eigentlich "Mindestanforderungen" meinen, andererseits nicht ganz klar ist, dass das dann eben auf ein Endergebnis nahe dem kleinsten gemeinsamen Nenner hinauslaufen dürfte.
Genau das ist meines Erachtens Teil des Problems. Wenn man sich dann noch an den schwächsten Tieren in der Herde orientiert, wird das Ergebnis verheerend. In dieser Hinsicht sind wir auf einem guten Weg...