Da ich in Kürze einen Vortrag zu dem Thema "Personalmangel: Rückzug des Rettungsdienstes auf die reine Notfallrettung?" halten darf, setze ich mich derzeit wieder einmal intensiver mit den Teilbereichen "Hilfsfristen", "Personalmangel", "Krankentransport", etc. auseinander.
In den letzten 25 Jahren stiegen die Zugangsmöglichkeiten zum außerklinischen Versorgungssystem durch den Siegeszug der Mobiltelefonie und des Internets überproportional stark an. Gleichzeitig besteht ein deutlicher Hausärztemangel, es wird mehr und mehr Dr. Google befragt und der Rettungsdienst reagiert mit einem System darauf, dessen Kern aus den 70er Jahren stammt.
Dies resultiert in einer Überalarmierung der Notfallrettungsmittel, da alle übergeordneten grossmaschigen Versorgungsnetze nicht mehr greifen und dadurch das engmaschigste Netz letzten Endes diesen Missstand kompensieren muss. Der Rettungsdienst wird als Feuerwehr des Gesundheitswesens missbraucht.
Dies hat dazu geführt, dass die Inanspruchnahme des Rettungsdienstes alleine von 2009 bis 2015, um 134% gestiegen ist.
Die wachsende Anzahl dieser nicht indizierten Einsätze sind nicht nur ein rein deutsches Phänomen, sondern begleiten die Entwicklung der Rettungsdienstsysteme in Westeuropa in den letzten 20 Jahren. Wie die Studie „A high proportion of prehospital emergency patients are not transported by ambulance: a retrospective cohort study in Northern Finland“ (http://onlinelibrary.wiley.com…0.1111/aas.12889/abstract) aus Finnland aus dem Jahre 2017 feststellte, wurde ein relevanter Anteil der „Notfall“-Patienten (41.7%) nicht transportiert, da keine Notwendigkeit bestand. In 39,9% dieser nicht zu transportierenden Patienten war keinerlei medizinische Indikation für den Einsatz gegeben. Das Gemeindenotfallsanitäter Projekt in Oldenburg und Umgebung kommt auf ähnliche Zahlen.
Leider ist darüber hinaus die Datenlage in Deutschland hierzu ziemlich „dünn“, da die Versorgungsforschung im Rettungsdienst noch nicht zur DNA der Rettungsdienstsysteme gehört und mangelnde Transparenz eine Eigenheit der Branchenkultur ist. Man lässt sich ungern in die Karten schauen und entzieht sich dadurch selbst jegliche Grundlage für eine zielgerichtete Systementwicklung.
Die einzige Reaktion, die man bisher zur Bekämpfung der Nicht-Einhaltung der Hilfsfrist kannte, war: Mehr Autos. Mehr Personal.
Wie soll das bei der aktuellen und zukünftigen Personalsituation realisierbar sein? Im Jahr 2025 wird der Arbeitskräftebedarf das Arbeitskräfteangebot (Stayer + Fachfremde) übersteigen. Hier sind die möglichen Effekte der Pandemie noch nicht mit eingerechnet, da hier die Aussagen aktuell noch widersprüchlich sind, ob diese einen positiven oder negativen Effekt auf die Gesundheitsbranche haben wird.
Überspitzt gesagt, hat der „Krieg um die Talente“ längst begonnen und die Position des Rettungsdienstes ist trotz eines eigentlich extrem spannenden Tätigkeitsfeldes sehr schlecht, da die veralteten Strukturen, die unklare Positionierung im Gesamtsystem (Gesundheitswesen oder nicht), die Branchenkultur, das Kompetenzgerangel zwischen den Standesorganisationen, die Unterforderung der Notfallsanitäter, mangelnde Entwicklungsmöglichkeiten, unzureichende Entlohnung und auch die schwierigen Führungsmentalitäten und –modelle, etc. schwerlich zu einer nachhaltigen Bindung der neuen Arbeitnehmergenerationen führen werden.
Und jetzt senkt man die Hilfsfristen im High-Performance Rettungsdienstländle, in dem Rettungsmittel in der Zwischenzeit komplett von Personalbörsen besetzt werden, da die Organisationen noch immer im Unternehmenskulturnirvarna herumdümpeln und nicht in der Lage sind, die "good old times" Mentalität endlich abzuschütteln, um sich personaltechnisch zukunftsfähig aufzustellen. Ja, das ist sehr pauschalisiert und trifft nicht auf jede Organisation in BaWü zu, aber das was ich als Freelancer erlebe, lässt mich des Öfteren einfach nur sprachlos zurück.
Aber mal abgesehen von diesen organisationsinternen Herausforderungen, wird man der Hilfsfristproblematik nicht mit einer Struktur aus den 70er Jahre Herr werden. Wir haben hier im Forum schon häufig über Lösungsansätze diskutiert. Daher mal wieder meine favorisierten Punkte:
- Ende der "one size fits all" Hilfsfrist und Staffelung der Hilfsfristen entsprechend der Indikation; Beispiel: Priorität 1 - max. 12 Minuten in 90% der Fälle, Priorität 2 - max. 30 Minuten in 90% der Fälle, Priorität 3 - max. 60 Minuten in 90% der Fälle, Priorität 4 - max. 120 Minuten in 90% der Fälle (Priorität 3 und 4 könnten ggf. auch von Gemeindenotfallsanitätern abgearbeitet werden)
- Evidenz basierte Abfragesysteme zur Förderung und Absicherung des Leitstellenfachpersonals inkl. einem Abfragekatalog für subakute "Notfälle"
- Nutzung von predictive planning Tools in Realzeit als Teil der Leitstellensoftware und in Kombination mit dynamic standby Modellen in der Fahrzeugvorhaltung
- Vollständige Trennung von Krankentransport und Rettungsdienst (Idee: EINE Krankentransportleitstelle pro Bundesland mit virtuell vernetzten Standorten)
- Nutzung von Dispositionssystemen für Krankentransporte inkl. integrierter AI zur Optimierung der Effizienz
- Integration der 116 117 in die Notrufleitstelle unter Nutzung des selben Abfragesystems (Low acuity version)
- Flächendeckende Etablierung von telemedizinisch unterstützen Gemeindenotfallsanitäter-Projekten als Triage und Behandlungskomponente
- Erweiterung der Rettungsmitteloptionen mit reinen NFS besetzten Behandlungseinheiten (Rapid Response Car) zur Einhaltung der Hilfsfrist
Sorry, der Text ist etwas länger geworden, aber um es noch einmal zusammenzufassen:
Mit einer Kernstruktur aus den 70er Jahren können wir die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts nicht lösen.