Beiträge von Harris NRÜ

    Es ist doch niemand gehindert, vom NAIK abzuweichen, weder ein Leitstellenbetreiber im Hinblick auf die Vorgaben, die er seinen Mitarbeitern macht, noch ein Mitarbeiter (solange er nicht von Vorgaben seines Arbeitgebers abweicht). Problematisch wird das doch nur, wenn sich diese Abweichung als fachlich falsch erweist und dadurch jemand geschädigt wird. Es genügt also, fachlich richtige Vorgaben zu machen.

    Genau hier sehe ich jedoch den Konflikt, sollte einer (der einen Notarzt brauchte) von tausenden Fällen (die keinen brauchten gemäß SOP und trotz NAIK) durch das Raster fallen. Dann kommen die berühmten hätte, hätte, Fahrradkette Fragen.

    Ich glaube, dass man den NAIK so lesen kann, dass das kein Problem ist. Man muss die Erläuterungen halt mitlesen.

    Das habe ich getan, weshalb ich ja glaube, dass das ein Problem werden könnte.


    Das kann ich mir kaum vorstellen. Die SOP machen Vorgabe für durchzuführende Maßnahmen, wenn Rettungsfachpersonal - vorwiegend Notfallsanitäter - ohne ärztliche Leitung Behandlungen vornehmen müssen. Mir wäre neu, dass sich SOPs an das Personal der Leitstellen richten.

    Es geht darum, dass ggf. wieder häufiger ein Notarzt entsendet werden müsste/sollte, was seit einigen Jahren die NotSan gemäß SOP alleine machen (also NA-Indikationen reduziert wurden). SOP (oder SER, je nach Nomenklatur) gibt es übrigens in vielen Berufen. Standardeinsatzregel Gefahrenmeldeanlage, Wohnungsbrand oder VU eingeklemmt. Es gibt auch "SOP" für Disponenten; sie nennen sich nur anders (hier und da).


    Der NAIK hat das Ziel, die Notarztalarmierung treffsicherer zu machen. Mir wäre neu, dass das seit Jahren gut funktioniert. Im Gegenteil: ich lese regelmäßig, dass schon die indikationsgerechte Alarmierung von RTW offensichtlich jenseits der Möglichkeiten vieler Leitstellen liegt.

    Das stimmt. Und die Bemühungen in der Hinsicht sind auch lobenswert (sofern keine Lobby-/Standesdünkel-Gedanken die Sachlage verschlimmern). Ich habe jedoch meine Zweifel, dass der neue NAIK hier so viel besser sein wird. Wir werden es erleben.

    Ja, genau. Und für die mangelhafte Systemorganisation kann die BÄK recht wenig.

    Die spannende Frage ist dabei jedoch, welches System sich anpassen sollte? Die SOP oder der NAIK? Die SOP sehen häufiger alleinige RTW-Indikationen für bestimmte Meldebilder vor. Wollen wir wieder einen Schritt zurück machen, was seit Jahren gut funktioniert? Also zu Oma Piepenbrink mit ihren starken Hüftschmerzen nach Sturz wieder ein NEF (oder RTH) entsenden, was der RTW mittlerweile alleine macht (die Analgesie). Hier entsteht ja der Konflikt.

    Harris NRÜ , wenn der Disponent "häufigen Stuhldrang" als "unmittelbat bevorstehende Geburt" interpretiert und aus einer Hyperventilation bei einem Kind eine "ausgeprägte Atemnot" macht, kann die BÄK allerdings auch nichts dafür. Das ist dann viel eher die Defensivmedizin, über die wir uns (zu recht) immer aufregen.

    Genau wie der NotSan vor Ort eigenständige Entscheidungen treffen und diese verantworten muss, muss das halt auch der Disponent. Wer sich dann nur auf eine wachsweiche Formulierung aus der BÄK-Empfehlung zurückzieht, macht es sich halt auch sehr einfach. Was verdient man als Disponent? E9? Nur Mut!

    Das mit dem Stuhlgang hast Du aus dem Zusammenhang gezogen. Und ja, unter starken Geburtswehen ist Stuhldrang (oder ungewollter Abgang) nicht ungewöhnlich und zählt somit zu den Anzeichen einer beginnenden Geburt. Aber gut, geschenkt. Das ist ein Nebenkriegsschauplatz. Die inhaltliche Frage ist ja wie dieses umgesetzt werden soll? Soll er sich an die NAIK halten (nur strukturierte Abfrage) oder orientiert sich die Software (standardisierte Abfrage) an den NAIK? Bei der standardisierten Abfrage müsste die Software die beginnende Geburt als NA-Indikation erkennen und entsprechend vorschlagen. Thema Schule und Hyperventilation: Den Schulen wurde hier schon tausende Male erklärt (auch über dem Wege QM), dass direkt vom Ort des Vorfalls der Notruf gewählt werden soll. Dieses passiert aber immer aus dem Sekretariat heraus, ohne das die Möglichkeit einer gezielten Rückfrage besteht. Und dann steht dem Disponenten nur die Information "Mädchen mit starker/akuter Atemnot" zur Verfügung. Das Problem ist nicht der Disponent, sondern die Organisation dahinter. Darf er selbst entscheiden? Muss er den NAIK beachten (was wäre bei einer Klage, wie im Berliner Fall)? Übernimmt das eine Software, die sich am NAIK orientiert, nicht aber an den örtlichen SOP? Und die SOP weichen hier deutlich vom NAIK ab. Was ist, wenn es schief geht? Orientiert sich das Gericht dann am NAIK ("das hätten sie aber wissen müssen", usw.). Das hat mit der Entgeltgruppe und dem Mut nichts zu tun, lieber Jörg. Hier geht es um die Systemorganisation, nicht um das individuelle Verhalten einzelner Disponenten.

    Das sehe ich nicht so. Der NAIK ist eine sachverständige Stellungnahme eines ärztlichen Gremiums, die keiner Anpassung an irgendeine Software bedarf. Im Gegenteil werden sich SOP und Software ggf. an den NAIK anpassen müssen - oder eben im Zweifel eine abweichende Handhabung begründen müssen.

    Wie Rene P. dieses schon sagte, wird dass der Situation nicht gerecht. Die SOP, die es bereits gibt, müssten wieder vermehrt eskaliert werden, um dieser sachverständigen Stellungnahme wieder gerecht zu werden. Ab wann spricht man von starken, nicht beherrschbaren Schmerzen? Wie komplex muss diese Therapie sein? Hier wird Nalbuphin und S-Ketamin durch die NotSan angewendet, sowie werden zu "einfachen" Verletzungen (Hüftschmerzen nach Sturz, Armverletzung nach Sturz) mit "starken" Schmerzen RTW alleine entsendet. Nachforderungen von NEF sind nur sehr selten notwendig. Unfall auf der Autobahn, Fahrzeug steht abseits der Fahrbahn, niemand eingeklemmt, steht neben dem Fahrzeug. Standard-Unfall. Müsste ein Notarzt mit hin, macht aber keiner. Selten ist auch wirklich einer notwendig. Der typische Mittagseinsatz des Löschzuges. Unklare Rauchentwicklung Mehrfamilienhaus. Eine Person steht vor dem Haus und hustet. Löschzug und RTW. Müsste eigentlich ein Notarzt mit hin. Zack: Der RTH ist auf dem Wege! Ab wann genau ist die Rauchgasentwicklung eine Notarztindikation? Drohender Suizid. Wie schlimm genau? "Ich will nicht mehr, wenn jetzt nicht jemand kommt, bringe ich mich um". Das übliche Zauberwort ist gefallen (die spezielle Kundschaft weiß, was sie sagen muss). Fährt regelhaft dutzende Male am Tag ein RTW alleine raus. Ab wann genau soll der Notarzt mit hin? Eigentlich soll hier sowas sogar schon der NKTW machen (mit RettSan plus). Unmittelbare beginnende Geburt: Was ist unmittelbar und beginnend? Regelmäßige Wehen unter 10 Minuten, Blasensprung, häufiger Harn- und Stuhldrang werden als Zeichen einer beginnenden Geburt gesehen. Fährt der RTW regelhaft alleine. Also auch Notarzt mit hin. Zack: Der dritte Hubschrauber rollt. Pardon, er fliegt. Das zuständige NEF steht gerade beim angebrannten Essen oder in der Schule bei der 14jährigen Schülerin mit einer Hyperventilation rum (wegen "ausgeprägter Atemnot"; ja, soll irgendwie raus gefiltert werden. Muss man erst mal schaffen. Anruf über Dritte, usw.) … Irgendwie passt das alles nicht (oder noch nicht) zusammen. Auch ist die Frage, warum wir in den letzten Jahren die Weiterentwicklung der SOP vorangetrieben haben, wenn wir, theoretisch, eine Rolle rückwärts machen müssten? Wie werden die Inhalte vor Ort definiert und umgesetzt (in der Abfrage und Einsatzentscheidung)?

    Das gebe ich Dir absolut recht. Diese Verstrickungen finden sich ja nicht nur in der Einsatzentscheidungen zur Abfrage wieder. Die Notarztindikationskataloge (BÄK oder der Länder) ignorieren ja auch die SOP, die in den Kreisen vorliegen (oder umgekehrt). Da sind wir auch wieder an den Grenzen des Föderalismus, da übergeordnete Dinge (wie der NIAK) schlecht auf individuelle Lösungen auf kleinerer Verwaltungsebene Rücksicht nehmen können (oder wollen). Natürlich können die Lösungen auf Kreisebene schlechter sein (die SOP, diese Diskussion hatten wir vor kurzem hier ja auch). Die beste Lösung wäre, dass es einheitliche SOP (zu mindestens auf Landesebene) gebe, an denen auch die Einsatzentscheidungen Notarzt ja oder nein am Ende der Abfrage berücksichtigen (also eine Anpassung der NAIK an die SOP und an die Software für die standardisierte Abfrage). Irgendwie arbeiten in dieser Hinsicht alle aneinander vorbei.

    Das Abfragesystem generiert nur Codes. Welche Reaktion auf welchen Code erfolgt, obliegt der jeweiligen Behörde.

    Ich könnte mir vorstellen, dass man bei der Reaktion auf entsprechende Standardwerke zurück greift, wie den NAIK der BÄK oder einem Pendant auf Landesebene. So ist das offiziell bei uns, dass sich an diesem Notarztindikationskatalog des Landes (über den LARD) orientiert wird (werden soll, nur strukturierte Abfrage), egal was die SOP der NotSan sagen.

    Schwierig finde ich aus der Sicht den Handlungsspielraum der Leitstelle, gerade was aus Sicht des Berliner Urteils (Atemnot, Asthmaanfall) zu beachten ist. Das Gericht ist damals zum Schluss gekommen, dass die Symptomkonstellation eine Notarzt-Indikation hätte erkennbar machen müssen. Maßgeblich sind allein Art und Ausmaß der Symptome, die einen lebensbedrohlichen Zustand implizieren, so die Orientierungsgrundsätze des Gerichts (so wie ich das als juristischer Laie verstehe). In diesem Zusammenhang machen mir einige Formulierungen in dem NAIK da durchaus Kopfschmerzen (nur ein bissel, sonst bräuchte ich ja einen Notarzt). Denn hinter auffälligen, ungewöhnlichen Atemgeräuschen oder schneller Atmung können auch subakute Infekt-induzierte COPD-Exazerbationen, die eben noch keine ARI bzw. NIV brauchen, stecken, oder auch eine Hyperventilation eines pubertierenden Mädchens mit Liebeskummer stecken. Mit dem Alltag da draußen passt das irgendwie nicht zusammen. Ich fürchte daher schon, dass die Ressource Notarzt in Zukunft weiter inflationär eingesetzt wird, auch mit den entsprechen Folgen der Motivation der Ärzte (und vorhandenen Personalressourcen).

    Begründung siehe oben. Es gibt halt Patienten, die sind mit der Diagnose dringlich OP-bedürftig und damit sicher auch überwachungspflichtig und solche, die können nach Hause und in 2 Wochen zur OP wieder kommen.

    Für ein akutes Ereignis stimme ich Dir da auch zu. Der von mir genannte Fall war eine Verlegung von einem Wald- und Wiesenkrankenhaus in ein Maximalversorger (ca. 150 km) mit einer HTG-Chirurgie. Planbar (für den nächsten Morgen bestellt) von einer kardiologischen Normalstation (ein 3-Kanal-EKG hatte er). Stabil, GCS 15, keine Zugänge, nix. Ereignis schon vor mehreren Tagen. Man bestand auf eine Notarztbegleitung, falls der Patient mal flimmern sollte (nur deswegen). Ein RTW (wegen dem Monitoring & Defi) hielt man für nicht ausreichend. ITW-Arzt hat Transport abgelehnt, da keine ITW Indikation (Recht hatte er). Kleine Leitstelle muckt unangenehm auf, weil man kein RTW+NEF entstenden will (Organisationsverschulden des Kreises). Große Leitstelle (für ITW verantwortlich) macht "Strukturbedingte Fahrt" = ITW rollt (einer von vier, die das Bundesland hat).


    Anderes Beispiel: Dual-Use-RTH/ITH eines anderen Bundeslandes bekommt von mir eine Notfallverlegung (Sekundärtransport sofort, hohe Dringlichkeit) aufgebrummt (junger Mann mit SHT nach Unfall, geht kaputt). Verlegung ca. 250 km Maximalversorger (die bereit waren den Mann aufzunehmen). Hubschrauber gerade in der Luft, örtliche Leitstelle (Großstadt, mehrere NEF) zieht Hubschrauber für Primäreinsatz ab (Luftnot im Altenheim) ohne Rücksprache mit mir (Info kam vom RTH, nicht von der Leitstelle). Nachfrage von mir bei der Leitstelle: "Ist ja ein Sekundäreinsatz, Primär geht vor. Ja, NEF wäre da, hat aber eine längere Anfahrtzeit. Wieso?" Ähm, ja. Im Begriff Notfallverlegung steckt eindeutig auch "Klaro, hat Zeit" drin. Nix anderes da, um dem jungen Mann zu helfen (eigene ITH bereits im Einsatz). Also warten und vertrösten. RTH nach ca. 45 Minuten nach Versorgung frei. War doch nicht so schlimm. Überraschung. Dann zweiter Versuch und hin düsen nach weit-weit-weg Klinikum.


    Ich könnte da noch mehr Storys erzählen. Es ist unbefriedigend, wie unsensibel mit hochwertigen Rettungsmitteln umgegangen wird. Das zeigt mir auch, dass bei der letztendlichen Entscheidung andere Funktionen und Verantwortlichkeiten geschaffen werden müssen. Abgebende Krankenhäuser sind oft genau so nicht dafür geeignet, wie kleine örtliche Leitstellen. Mit einem Arzt-zu-Arzt-Gespräch kann man viel klären, so dass vom ITW oder ITH die Rückmeldung kommt "keine Indikation ITW/ITH". Im Regelfall muss sich die Intensivleitstelle dann aber mit den örtlichen Leitstellen auseinander setzen, weil die sauer werden. Aber geht. Vielleicht hilft hier in Zukunft ein Telenotarzt mehr? Irgendwie muss das in Zukunft besser gestaltet werden.

    Ein großes Problem mit den PAL ist auch, dass diese oft kaum Unterstützung durch den Arbeitgeber bekommen. In meinem Bundesland soll es eigentlich pro 25 Schüler 1,0 PAL Stellen Freistellung geben. Freistellung werden aber so gut wie gar nicht gelebt und auch seitens der PAL, der Wachenleitungen und vom Betriebsrat scheinbar nicht effektiv und hartnäckig eingefordert. Ich habe das Problem schon einige Male angesprochen. Ein PAL braucht auch Zeit, um gute Ausbildung gestalten zu können. So nebenbei ist das in einer 100 % Schichtdienst-Stelle nicht zu machen, ja quasi unmöglich!


    Auch wäre es vielleicht förderlich, wenn einige PAL, zu mindestens aber der leitende PAL einer Organisation, pädagogisch weiterqualifiziert wird wie nur 300 Std. PAL. Ein Bachelor im Bereich Pädagogik wäre da schon schön, weil mehr Wissen in die Ausgestaltung der Aus- und Fortbildung gesteckt werden könnte und die Schulen über bessere Schnittstellen verfügen. Ganz nebenbei hätte man mehr Attraktivität für Aufstiegschancen geschaffen.

    Ich glaube, dass das auch keiner in Abrede stellen will (oder?). Ein Patient mit Heimbeatmung, ein Patient mit schweren Kontrakturen / Decubitus, ein Patient mit einem multiresistenten Keim, usw. mit einem KTW zu entlassen oder sonst wie hin und her zu transportieren ist doch ein Job, für den genau der KTW gedacht war. Die Frage ist jedoch, ob laufende, nicht ansteckende, nicht medizinisch überwachungspflichtige (Ausnahme psychiatrische) Patienten zwingend mit einem KTW gefahren werden müssen? Die Wahl KTW fällt hier in der Regel deshalb, weil es schneller geht und einfacher umzusetzen ist (man muss nicht dutzenden Firmen hinterher telefonieren, der Rettungsdienst darf nicht nein sagen und hier in NI gemäß § 5 Bedarf-VO-RettD eine Hilfsfrist von 30 Minuten im qKT besteht *). Also Oma Piepenbrink bräuchte keinen KTW, nur weil diese nicht mehr so gut zu Fuß ist und zur Blutentnahme zum Hausarzt gefahren werden soll. Das können auch ein oder zwei Taxifahrer mit einem Tragestuhl (ggf. mit Raupe) machen, damit Oma Piepenbrink die Treppe runter kommt. Ansonsten braucht diese in der Regel nur etwas netten Klönschnack, weil diese sich freut, mal wieder aus ihrer Bude raus zu kommen. Ich finde schon, dass Kritik am derzeitigen System angebracht ist, weil es Unmengen an Ressourcen verbraucht und durchaus auch missbraucht wird. Das soll aber auch im Umkehrschluss keine Verweigerung ggü. Patienten bedeuten, die zwar keine Notfälle sind, aber aufgrund ihres medizinischen und/oder pflegerischen Zustandes fachliche Betreuung/Überwachung benötigen. Dafür bin auch ich mir, als NotSan, nicht zu schade für.


    Edit: ich sehe gerade, dass die Bedarfs-VO-RettD gerade vor ein paar Wochen geändert wurde. Die 30 Minuten sind nun Geschichte.