Ein kleiner Einwurf zu SmED: Man kann das System auf der Website des kassenärztlichen Notdienstes online "ausprobieren":
https://www.116117.de/de/patienten-navi.php
Ich habe mir einmal den Spaß gemacht, einen aktuellen Fall aus meinem Rettungsdienstalltag durchzuklicken:
Mann Ende 40, seit zwei Tagen unspezifische, eher drückende Kopfschmerzen und Unwohlsein. Behandlung mit allem, was die Hausapotheke hergab (ASS, Ibu, PCM) brachte mäßige, kurzfristige Linderung. Am dritten Tag plötzliche Änderung der Schmerzcharakteristik: Nun stärkster, nie dagewesener Vernichtungskopfschmerz holocephal, einmal erbrochen, danach "will meine Ruhe, will schlafen". Risikofaktor Rauchen, keine Dauermedikation, keine bekannten Vorerkrankungen, Vater früh an Gehirnblutung verstorben.
Ich denke, die (Verdachts-)Diagnose dürfte jedem klar sein. Die Frau rief den Rettungsdienst, der Patient wurde bei zunehmender Vigilanzminderung noch vor Ort intubiert und per RTH in eine Stroke Unit mit Neurochirurgie gebracht, Outcome leider infaust.
Gebe ich nun den Fall wahrheitsgemäß in den SmED-Dialog ein, lande ich stets entweder bei "ärztlicher Vorstellung innerhalb von 24h" oder zumindest manchmal bei "schnellstmöglicher ärztlicher Behandlung", hier jedoch auch mit der Empfehlung die 116117 und nicht etwa die 112 zu rufen.
Je nach Antworten kamen dann auch unzählige Distraktoren wie "könnte eine Lebensmittelvergiftung vorliegen" (jo mei, kann schon sein...) oder "waren sie im Ausland?" (ja). Familienanamnese wurde nie abgefragt.
Ich denke die drei Antworten, die das System auf die falsche Spur brachten waren:
1. Die Situation wurde von Patient wie Ehefrau zwar als höchst unangenehm und kaum auszuhalten, aber nicht als akut lebensbedrohlich eingeschätzt.
2. Die seit zwei Tagen bestehenden Kopfschmerzen (a.e. hypertensiv bedingt) lenken von der plötzlichen (rupturbedingten) Veränderung des Schmerzcharakters ab.
3. Die zunächst mäßige Besserung auf Analgetika aus der Hausapotheke.
Dies mag jetzt ein Extrembeispiel oder ein statistischer Ausrutscher gewesen sein (in einer Musestunde werde ich noch weitere Fälle durchspielen), bestätigt mich in meiner eher ablehnenden Meinung zur zunehmenden Algorithmisierung des Gesundheitswesens. Ich habe vor meinem inneren Auge jetzt eine ganz spezifische MTS-Triagekraft und auch einige Leitstellendisponenten, die diesem Patienten ebenfalls die dringende Hilfe versagt hätten - weil der Computer es so vorgibt. Und ich habe auch (v.a. junge) Kollegen vor Augen, die nur noch nach Algorithmen handeln - weil sich ihr gesamtes Lernen entlang dieser Algorithmen entlanghangelte und sie gar nicht wissen, was es links und rechts davon noch gibt und vor allem, weil Abweichen von Algorithmen in Form von Stellungnahmen sanktioniert wird.
Und irgendwann, wenn das ganze flächendeckend etabliert ist, wird jemand die Frage stellen: Wozu brauchen wir am Tiragetresen, in der ILS, im Rettungsdienst noch teures Fachpersonal, wir haben doch unsere Algorithmen, die statistischen Auswertungen zufolge zu 99,8% eingehalten werden...