Ein kleiner Blick über den Tellerrand kann manchmal, auch in Berufspolitischer Hinsicht, nützlich sein, auch wenn die Lektüre dieser Stellungnahme etwas anstrengend ist:
http://www.ethikrat.org/dateie…n-im-gesundheitswesen.pdf
ZitatAlles anzeigenZusammenfassung und Empfehlungen:
Die Festlegung von Kriterien für eine gerechte Ressourcenver- teilung im Gesundheitswesen ist eine politische Aufgabe mit einer medizinischen, ökonomischen, ethischen und juristi- schen Dimension. Die Komplexität der Fragestellung macht es unmöglich, einen vollständigen Konsens zwischen allen Betei- ligten herzustellen. Viele Detailfragen lassen unterschiedliche ethische Bewertungen zu. Dennoch ist der Deutsche Ethikrat der Ansicht, dass sich Grundsätze formulieren lassen, an de- nen sich existierende Strukturen und Prozesse nicht zuletzt im Sinne einer zukunftsorientierten Perspektive messen lassen müssen. Diese Grundsätze stecken lediglich einen Rahmen ab, innerhalb dessen die Gesundheitspolitik einen erheblichen Entscheidungsspielraum besitzt. Dennoch gelten bei Alloka- tionsentscheidungen Grenzen, die aus ethischer Sicht nicht verletzt werden dürfen. Vor diesem Hintergrund fasst der Deutsche Ethikrat seine Position – insbesondere im Hinblick auf die normative Funktion der Bewertung von Nutzen- und Kosten-Nutzen-Verhältnissen im Gesundheitswesen – wie folgt zusammen.
1. Erhebliche medizinische Verbesserungen zur Erhaltung der Lebensqualität und zur Verlängerung der Lebenszeit werden auch für die Zukunft erwartet. Dies führt unver- meidbar zu Kostensteigerungen. Eine Erhöhung der auf solidarischer Basis zur Verfügung stehenden Finanzmittel darf daher nicht von vornherein ausgeschlossen werden. Jedoch gibt es auch im Hinblick auf die Gesundheitsversor- gung Grenzen kollektiver Finanzierungsbereitschaft. Diese Grenzen sind nicht gleichzusetzen mit einer moralisch be- denklichen Einschränkung gesellschaftlicher Solidarität.
2. Vor diesem Hintergrund sollten Priorisierung, Rationali- sierung und Rationierung offen thematisiert werden. Jede Form einer „verdeckten Rationierung“ medizinischer Leis- tungen ist abzulehnen. Notwendige Rationierungsentschei- dungen dürfen nicht an den einzelnen Arzt oder die einzelne Pflegekraft delegiert werden. Sofern Leistungsbeschränkun- gen erfolgen, müssen diese klar benannt werden.
3. Das Sicheinlassen auf das Problem der Verteilung knapper Ressourcen im Gesundheitswesen bedeutet keine Festle- gung auf eine „Ökonomisierung“ von Entscheidungen. Eine sachliche Debatte erfordert vielmehr die Einbeziehung medizinischer, ökonomischer, ethischer und juristischer Expertise in ein transparentes Verfahren. Verteilungsent- scheidungen sind nicht allein Gegenstand wissenschaftli- cher Expertise, auch wenn es – sowohl empirische als auch kategoriale – Einzelfragen gibt, zu deren Klärung Experten benötigt werden. Letztlich sind Entscheidungen über den Umfang solidarisch finanzierter Leistungen ethische Ent- scheidungen, die im gesellschaftlichen Diskurs und auf po- litischem Wege getroffen werden müssen.
4. Zwischen den gesamtgesellschaftlichen Interessen und denjenigen des Einzelnen besteht ein Spannungsverhältnis. Das Prinzip der Menschenwürde und die Grundrechte er- fordern einen durch Rechte gesicherten Zugang jedes Bür- gers zu einer angemessenen Gesundheitsversorgung. Diese Rechte dürfen nicht hinter etwaige Erwägungen zur Steige- rung des kollektiven Nutzens zurückgestellt werden. Auch darf der errechnete oder vermutete sozio-ökonomische „Wert“ von Individuen oder Gruppen nicht Grundlage von Verteilungsentscheidungen sein.
5. Die Entscheidung über die Ressourcenverteilung in einem solidarischen Gesundheitssystem stellt besondere Anforde- rungen an die Ausgestaltung der Entscheidungsprozesse. Der Gesetzgeber hat zu beachten, dass Fragen der gesund- heitspolitischen Mittelverteilung unter Bedingungen der Knappheit Gerechtigkeitsfragen sind, die nicht an wissen- schaftliche Institute, Verbände oder Interessengruppen dele- gierbar sind. Eine Mindestanforderung ist die demokratische Legitimation der Entscheidungsträger; der demokratisch le- gitimierte Gesetzgeber darf sich seiner Verantwortung nicht entziehen.
6. Der verantwortliche Einsatz knapper Ressourcen erfordert es, sie für Maßnahmen einzusetzen, die unter den alltäg- lichen Versorgungsbedingungen tatsächlich einen Nut- zen erbringen. Neben der frühen Nutzenbewertung zur Preisfestlegung muss eine ausführliche Nutzenbewertung unabhängig von Kostenerwägungen vor allem in Bezug auf die patientenrelevanten Endpunkte (Mortalität, Mor- bidität, Lebensqualität) durch den G-BA und das IQWiG weiterhin jederzeit möglich sein. Für wichtige Indikations- bereiche sollte eine systematische zweite Stufe der Nutzen- bewertung nach einem angemessenen Zeitraum regelhaft eingeführt werden, nicht nur für Arzneimittel, sondern auch für nicht-medikamentöse Behandlungsverfahren. Ein Leistungsausschluss wegen fehlenden Nutzens muss aus Gründen des Patientenschutzes möglich sein.
7. Die Transfer- und die Versorgungsforschung sind auszu- bauen, ebenso die vom Hersteller unabhängige Förderung versorgungsnaher klinischer Studien nach Zulassung eines Medikaments oder Medizinprodukts. Dies ist zu verbinden mit einer systematischen Identifikation besonders rele- vanter Forschungsfragen für die medizinische Versorgung zum Beispiel durch den G-BA. Dazu hat der Gesetzgeber geeignete Rahmenbedingungen zu schaffen.
8. Es ist eine Publikationspflicht für alle Studien anzustreben, unabhängig von ihrem Ergebnis, und nicht nur für die zu- lassungsrelevanten konfirmatorischen Studien sowie für die klinischen Prüfungen nach Zulassung. Nur so ist der Zugang zu allen für die Nutzenbewertung relevanten Da- ten zu gewährleisten.
9. Im Kontext der Kosten-Nutzen-Bewertung medizinischer Leistungen gibt es aus ethischer und gerechtigkeitstheore- tischer Sicht gewichtige Gründe dafür, nicht das Prinzip ei- ner patientengruppenübergreifenden Nutzenmaximierungzu verfolgen. Deshalb sollte der Gesetzgeber § 35b SGB V (Bewertung des Kosten-Nutzen-Verhältnisses von Arznei- mitteln) entsprechend klarstellen.
10. Aber auch die Kosteneffektivitätsberechnungen nach einem Effizienzgrenzenkonzept können nicht ethisch „neutral“ als Maßstab der Angemessenheit von Erstattungsentschei- dungen für Innovationen dienen. Denn die Kosteneffek- tivität der jeweils nützlichsten etablierten Therapie im jeweiligen Indikationsgebiet, also der Status quo, beruht auf vielfältigen, zuweilen nicht aufeinander abgestimmten Faktoren. Das IQWiG hat diese Methode jedoch bislang praktiziert, da es sich auf den gesetzlichen Auftrag beruft. Soweit das Vorgehen zu kritisieren ist, hat sich die Kritik an den Gesetzgeber zu richten. Dieser hat mit dem Hinweis auf die Berücksichtigung der internationalen Standards der Gesundheitsökonomie (§ 35b Abs. 1 Satz 5 SGB V) keine ausreichend klaren Vorgaben gemacht.
11.Die Auswirkungen der aktuellen Vorgaben zur Kosten- Nutzen-Bewertung in Deutschland sind zurzeit wegen des formell unveränderten Anspruchs der Versicherten auf Versorgung mit allem medizinisch Notwendigen im We- sentlichen unschädlich. Sie dienen derzeit nicht als Inst- rument zur Verteilung knapper Ressourcen, sondern zur Preisfestsetzung.
12. Die in Zukunft zu erwartende Notwendigkeit von Rationie- rungsentscheidungen wird den Gesetzgeber aber zwingen zu klären, in welchem Umfang Leistungsansprüche nach § 27 und § 12 SGB V von einer Kosten-Nutzen-Bewertung beeinflusst werden dürfen und in welchem Verhältnis sich diese zum Kriterium der medizinischen Notwendigkeit verhält.