SZ: Bayern stattet Rettungswagen wegen Terrorgefahr mit militärischer Ausrüstung aus

  • Aber die Einbindung spezialisierter Kräfte in der ersten Phase einer Amok- oder Terrorlage ist eben nicht möglich, sodass den regulären Einheiten entsprechende Mittel UND ein minimales Training bereitgestellt werden muss.


    Warum sollte das nicht möglich sein? Es geht halt nicht in der Hilfsfrist, die wir vom Individualnotfall kennen, aber bei vernünftigen Planung dürften SEGen inneralb 30min einsatzklar sein.


    Die Frage ist nicht so sehr, ob es sinnvoll ist, zusätzliches Material zu verlasten, sondern: Reicht es aus, die RD-Mitarbeiter zu schulen und vor allem nachzuschulen? Entsteht durch das wirklich seltene Vorkommen solcher Situationen nicht eine Wissenslücke, die man eigentlich nur durch regelmäßiges Üben schließen könnte. Und: Kann ich die Zeit nicht sinnvoller verwenden, um so vielleicht 20 Patienten pro Jahr zu helfen statt der 0,0005 pro Jahr und RTW.


    Ich weiß, dass Terror und Amok gerne Themen sind, die in der Emotionalität gleich hinter Kinder und Hundewelpen kommen. Aber realistisch gesehen kommt es halt nicht zu so einem Einsatz. Und wenn doch, dann sind andere Fragestellungen viel wichtiger: Was bringt zum Beispiel eine schnelle Erstversorgung, wenn nicht schnell Krankenhauspersonal zugeführt werden kann, dass man dort überhaupt weiterbehandelt werden kann?
    Wir sollten unsere täglichen Probleme in den Griff kriegen, und uns über die seltenen Fälle Gedanken machen und bei Zebras wissen, wo sich vielleicht schon mal jemand Gedanken gemacht hat. Tourniquets und anderes Material ausschließlich für die Kriegs- oder Katastrophenmedizin bereitzustellen, halte ich für Aktionismus (und angesichts der Überschrift auch ein bisschen für Populismus).

  • Christian Betgen:


    Ganz praktisch: 1. In 30 Minuten ist der Pat. verblutet. 2. 30 Minuten für eine SEG ist nicht überall realistisch. (Bei uns wird das durch HLF der BF im Erstangriff übernommen.)


    Die Wahrscheinlichkeit eines Anschlags variiert je nach RD-Bereich. In meinem wurde einer verhindert, ansonsten wären die Kollegen innerhalb 5 Minuten 3. oder 4. RTW vor Ort gewesen.
    Die Wahrscheinlichkeit einer Amoklage dürfte überall ähnlich sein.


    Umgang und Schulung mit dem vorgestellten Materiel, welches übrigens nicht allzu teur ist, hält sich in Grenzen und kann auch bei anderen Notfällen Verwendung finden.

  • Und vielleicht auch speziell geschulte Teams. Ich sehe das eher weniger beim hauptamtlichen Rettungsdienst. Und Terrorgefahr hin oder her: Wie oft kommt der durchschnittliche RTW denn tatsächlich in eine Amok- oder Terrorlage, in der tatsächlich Verletzte zu beklagen sind? Und reichen dann 4 Tourniquets aus?
    Wenn man sich schon Gedanken macht, das Militär ins Spiel zu bringen, dann könnte ich mir das zum Beispiel in der medizinischen Versorgung ganz gut vorstellen...


    Ich glaube bis die Bundeswehr in der Fläche da sind, sind die entsprechenden Patienten tot. Meiner Meinung nach wäre es sinnvoll (für alle Patienten), RTWs und NEF in einer so geringen Zahl vorzuhalten, die es dem Personal erlaubt mit alltäglichen Notfällen routiniert umzugehen. Dadurch wäre ein Terroranschlag zwar sicher immer noch weit außerhalb der "Komfortzone", aber nicht so weit weg, wie bei Personal, was im Durchschnittsdienst vor allem Dialysefahrten abwickelt.


    Diese wenigen, erfahrenen Teams könnten dann die kompliziertere Erstversorgung übernehmen, also praktisch das, wo man sich dazu überwinden muss, Löcher in Menschen zu schneiden oder ekelhaft aussehende Prozeduren durchzuführen. Die in größerer Zahl vorhandenen KTP-Einheiten würden den schnellen Transport in Krankenhäuser übernehmen.


  • Wenn es einen Nutzen für andere Verletzungsbilder oder -muster gibt, dann kann man das doch auch argumentativ gleich einführen? Ich glaube, dass jede Verletzung, in der es zu massiven Gewebeschädigungen kommt häufiger ist, als eine Verletzung durch einen Terroranschlag.
    Zu Wahrscheinlichkeiten kann ich nix sagen, aber das dürfte retrospektiv kein großes Problem sein, die Anzahl der Verletzten pro RTW pro Jahr zu bestimmen. Meist hat man bei einem Sprengstoffanschlag ja dann auch gleich meist mehrere Verletzte. Bei Amoklagen sieht das zugegebenermaßen tatsächlich anders aus.


    Aber zurück zu meiner Grundproblematik: Wenn ich die Kosten und den Nutzen gegeneinander aufrechne (was ich persönlich gar nicht kann, da ich die Zahlen nicht kenne), dann muss ich schauen, wie ich meine Ressourcen am gewinnbringendsten einsetzen kann. Sprich: Wieviel kostet mich Schulung und Material? Und Welche Maßnahmen lassen sich sonst noch mit diesen Mitteln finanzieren? Welche dieser Maßnahmen sind am gewinnbringendsten (im Sinne des Patientenoutcome).


    Oder, anhand eines Beispiels: Ein Set Tourniquets kostet pro Jahr 50€ (inkl. Anschaffung, Personalkosten, Platz, Lagerung etc.), die Schulung im Quartal für jeden Mitarbeiter 1,5h (Anleitung + "Lehrer" pro 2 MA je eine Stunde). Macht zusammen also 50€ + 6h/pro Jahr und MA. Nutzen: lässt sich berechnen (ich hatte bisher noch keinen Patienten aus Terror- oder Amoklagen und ich wüsste spontan in meinem direkten Umfeld auch keinen). Für einen Katheterwechsel habe ich ebenfalls Materialkosten von 50€, einen Schulungsaufwand von 8h pro Mitarbeiter pro Halbjahr(eine Schicht in einer urologischen Ambulanz). Macht 50€ + 16h pro Jahr und MA: Nutzen: Viele Patienten müssen nicht transportiert werden, geringere Fahrzeugkosten, geringere Krankenkassenkosten, höhere Verfügbarkeit der Rettungsmittel. Die Frage ist nun: Wo investiere ich Zeit und Geld?

  • Ich möchte mal bei eurer Wahrscheinlichkeitsrechnung noch was einwerfen:
    Nicht nur bei Terror- oder Amokopfern kann man Tourniqets oder Hämostyptika brauchen. Ich denke da auch an grosse Quetschverletzungen der Extremitäten, Kettensägenverletzungen, Überrolltraumata oder ähnliche Hämorrhagien. Alles immer noch nicht soooo häufig aber deutlich häufiger als Terror.


    Ich werf jetzt einfach mal ne Schätzung in den Raum: Ich schätze das ein Vollzeit-Rettungsdienstler im Mittel ein halbes Mal pro Jahr einen Patienten mit einer solchen Blutung hat bei der ein Tourniqets oder anders gearteter Abbinder helfen wird, gleich welcher Genese (Waldunfall, Böllerverletzung, etc.).

  • Wieso reden wir eigentlich beim Thema "Einsätze des Rettungsdienstes im Gefahrenbereich" eigentlich immer nur von den eher unwahrscheinlichen Terrorlagen? Es gibt ja auch im Tagesbetrieb oftmals Situationen, bei denen eine Versorgung erst nach Verbringung des Patienten in einen sicheren Bereich möglich ist. Mir gefällt daher das Prinzip der britischen HART-Einheiten, die eine qualifizierte Patientenversorgung innerhalb eines Gefahrenbereiches durchführen, egal ob Terrorlagen, Gefahrgutunfälle oder Gebäudeeinstürze. Eine Berechtigung für einen derartigen Dienst kann ich auch in Deutschland erkennen. Damit bewegen wir uns auch qualitativ auch auf einem anderen Niveau als für TVV "aufgebohrte" RTW oder SEGen.

  • Nicht nur bei Terror- oder Amokopfern kann man Tourniqets oder Hämostyptika brauchen. Ich denke da auch an grosse Quetschverletzungen der Extremitäten, Kettensägenverletzungen, Überrolltraumata oder ähnliche Hämorrhagien. Alles immer noch nicht soooo häufig aber deutlich häufiger als Terror.


    Klar, ab das gabs doch vor München auch schon. Warum hat man da keine Tourniquets eingeführt?


    Ich will gar nicht abstreiten, dass so etwas sinnvoll sein kann. Aber im Zusammenhang mit Terroranschlägen ist es einfach nur Aktionismus gepaart mit Populismus und eine in der Effektivität sehr begrenzte Einzelmaßnahme, die billig ist, schnell geregelt ist und die keinerlei Folgeverantwortung benötigt. Ideal, wenn es um Wahlkampf geht, mehr nicht! Das ist der Punkt, um den es mir eigentlich geht.

  • Äh, Wahlkampf im BRK?!


    Im übrigen ist die Zusatzausstattung nur ein kleiner (1,5 Seiten von etwa zwei Dutzend) Teil der REBEL-Richtlinie, der größte Teil sind Meta-Dinge wie Führungsstrukturen, Kommunikation, Verhaltensregeln, etc.
    Also deutlich nachhaltiger...
    Das dass gewisse Medien natürlich mit einem anderen Schwerpunkt darstellen war erwertbar. "Rettungsdienst Bayern formt Kommunikationsstrukturen für besonderen Einsätze" lässt sich hald deutlich schlechter ausschlachten als oh mein Gott da ist jetzt Militärausstattung auf dem RTW.


    Die Richtlinie gab es übrigens auch schon vor München (würde etwa einen Monat vorher herausgegeben).

  • Hat eigentlich jemand die REBEL-Handlungsempfehlung als PDF für mich?! Über die AGBN kann ich es leider nicht mehr downloaden.

  • Soll auch im Rahmen der "18. Münchner Fachtagung Führen von Einsatzkräften" vorgestellt werden.

    They say God doesn't close one door without opening another.

    Please, God, open that door. :oncoming_fist_light_skin_tone:

  • Es wurde nun das neue "REBEL-Set" für die bayerischen RTW vorgestellt, welches zentral beschafft und auf allen Rettungswagen Standard wird.


    Es umfasst:


    Blutungsstillung MATResponder Tourniquet 4x
    Blutungsstillung QuikClot Z-Folded Gauze 2x
    Thoraxpunktionsnadel Pneumothorax-Kanüle Gr. 2 2x
    Beckenschlinge SAM Pelvic Sling II 1x
    Schiene SAM SPLINT 3x
    Thoraxverschlusspflaster SAM CHEST SEAL 2x
    Introssärer Zugang IZ-EO Bohrer 1x


    Die genannte Menge der einzelnen Komponenten kann je nach Wache/Fahrzeug abweichen und stellt nur eine Handlungsempfehlung des bayerischen Innenministeriums dar. Auch die Unterbringung des Sets geschieht individuell (Fahrzeugschubladen, Notfallrucksack, eigene Tasche/Koffer/Rucksack).

  • Richtig fortschrittlich!



    SCNR



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    Under pressure, you don't rise to the occasion. You sink to your level of training.

  • Der nächste Zweiradfahrer mit abgerissenen Körperteilen wird durch dieses Set sicherlich auch keinen Nachteil erleiden. :positiv:

  • Also in dem von der H-DG (be-/ge-)stellten Set, das wir in der Fortbildung zur Ansicht da hatten waren es ordentlich TQs von CAT...