Hamburg: Verdacht des versuchten Tötungsdelikts durch Unterlassen in Hamburg-Billstedt

  • Ich wollte es zunächst in den Garantenstellung-Thread packen, aber der ist steinalt und durcheinander, daher hier.
    Ein schönes, plastisches Beispiel für eine mögliche Tatbegehung durch Unterlassen bzw. für eine "Garantenstellung".


  • Interessensfrage an dir Juristen hier im Board:


    Ist eine versuchte Tötung durch Unterlassen so juristisch als Straftatbestand tatsächlich möglich?


    Danke im Voraus,


    madde

    "You won't like me when I'm angry.


    Because I always back up my rage with facts and documented sources."



    The Credible Hulk.

  • Zitat

    die nach jetzigem Sachstand nicht feststellte, dass Reanimierungsmaßnahmen möglich gewesen wären.


    In meinen Augen eine ziemlich unglückliche Formulierung. Hat sie festgestellt, dass eine Reanimation nicht möglich war (sprich: sie hat Lebenszeichen oder sichere Todeszeichen gesehen), oder hat sie die Patientin überhaupt nicht untersucht und war so überhaupt nicht in der Lage, von einem Notfall auszugehen. Das erscheint mir allerdings etwas seltsam.
    Wie so oft interessiert mich auch hier wieder die Geschichte hinter der Geschichte. Vor allem, wie die Polizei hier ins Spiel kam...


    Gruß, Christian

  • Ehrlicherweise war ich noch bei keiner Rea im Pflege oder Altenheim, wo bereits eine HLW durchgeführt wurde.

    Under pressure, you don't rise to the occasion. You sink to your level of training.

  • Aber meist reicht es doch für einen Anruf bei der Leitstelle... Das heißt, dass ein gewisses Empfinden einer Notfallsituation ja schon vorhanden war - was in diesem Fall ja wohl augenscheinlich nicht gegeben war.

  • Ehrlicherweise war ich noch bei keiner Rea im Pflege oder Altenheim, wo bereits eine HLW durchgeführt wurde.


    Hier eigentlich immer, es sei den es gibt Gründe die dagegen sprechen (Patientenverfügung usw.) und der Rettungsdienst kommt eigentlich nur zur Todesfeststellung.

  • Zitat

    es sei den es gibt Gründe die dagegen sprechen (Patientenverfügung usw.) und der Rettungsdienst kommt eigentlich nur zur Todesfeststellung.


    Dann wäre die 112 aber die falsche Nummer. ;)

    Under pressure, you don't rise to the occasion. You sink to your level of training.

  • Nö, hier ist das Aufgabe des Rettungsdienstes. Zumindest außerhalb der Erreichbarkeit des Hausarztes und da ich nur am WE fahre und da der Hausarzt in der Regel nicht erreichbar ist, fahre ich nicht selten zu Todesfeststellungen. Die Polizei fordert dafür auch immer einen Notarzt an. Das auch dienstags um halb zehn.

  • Ich geh auch oft über rote Ampeln. Desshalb ist das nicht unbedingt richtig oder sinnvoll. 8-)

    Under pressure, you don't rise to the occasion. You sink to your level of training.

  • "Pflegekraft" ist eine Sammelbezeichnung, die gar nichts über die Qualifikation aussagt.
    Die Fachkräftequote in der stationären Altenpflege ist erschreckend niedrig - das liegt noch nicht einmal am Profitdenken der Betreiber, sondern an den politischen Vorgaben.


    Berücksichtige ich diese Fakten, wird es für mich darauf hinauslaufen, daß bei einer un- oder nur teilausgebildeten Pflegekraft OHNE sofortigen Zugriff auf eine Pflegefachkraft ein anderer Maßstab angenommen werden muß wie bei einer dreijährig ausgebildeten Pflegefachkraft.

    raphael-wiesbaden


    Artikel 1
    (1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.


    Selig sind die geistig Armen - nur: kann der Himmel die ganzen Seligen auch wirklich aufnehmen ?

  • Berücksichtige ich diese Fakten, wird es für mich darauf hinauslaufen, daß bei einer un- oder nur teilausgebildeten Pflegekraft OHNE sofortigen Zugriff auf eine Pflegefachkraft ein anderer Maßstab angenommen werden muß wie bei einer dreijährig ausgebildeten Pflegefachkraft.


    Aber auch wenn wir von einem Laien ausgehen: wenn zwei Leute sagen "Notfall!" und Du machst nichts (wie im Pressebericht geschildert), dann ist das zumindest unterlassene Hilfeleistung.


  • Hier eigentlich immer, es sei den es gibt Gründe die dagegen sprechen (Patientenverfügung usw.) und der Rettungsdienst kommt eigentlich nur zur Todesfeststellung.


    Was ich zur Relativierung noch anmerken muss: in "meinem" Wachgebiet gibt es fast nur Altenheime meines Arbeitgebers und das Personal dort kommt einmal im Jahr zum Notfalltraining. In die Klinik. Zu meinem Kollegen und mir. ;-)

  • wenn zwei Leute sagen "Notfall!" und Du machst nichts


    genau an dem "Nichts" habe ich etwas meine Zweifel. Es könnte ja zum Beispiel sein, dass die nicht deutsch sprechende Reinigungsfachkraft eine Schwester suchen gegangen ist.

  • Ich muss ehrlich sagen, dass ich es mich nach meinen Erfahrungen mit einigen Hamburger Pflegeheimen nicht wundern würde, dass nichts getan wurde, allerdings schon, dass kein Notruf abgesetzt wurde. Man nannte das immer sarkastisch den Feuerwehr-Weckdienst. Wenn morgens ein Bewohner sich nicht regte, wurde die 112 gewählt. Entweder hatte man nach deutlicher Ansprache einen völlig verdatterten Senior vor sich, oder eine leblose Person. Eine Reanimation im Pflegeheim habe ich dort auch nur einmal - telefonisch angeleitet durch die Feuerwehr - gesehen. Aber das jemand mit einem Notruf in der Hansestadt zögert erscheint mir sehr suspekt.

    Land zwischen den Meeren,
    vor dem sich sogar die Bäume verneigen,
    du bist der wahre Grund,
    warum Kompassnadeln nach Norden zeigen!

  • "Pflegekraft" ist eine Sammelbezeichnung, die gar nichts über die Qualifikation aussagt.
    Die Fachkräftequote in der stationären Altenpflege ist erschreckend niedrig - das liegt noch nicht einmal am Profitdenken der Betreiber, sondern an den politischen Vorgaben.


    Berücksichtige ich diese Fakten, wird es für mich darauf hinauslaufen, daß bei einer un- oder nur teilausgebildeten Pflegekraft OHNE sofortigen Zugriff auf eine Pflegefachkraft ein anderer Maßstab angenommen werden muß wie bei einer dreijährig ausgebildeten Pflegefachkraft.


    Leider garantiert auch die Anwesenheit einer Fachkraft *und* des Pflegedienstleisters *und* des Heimleiters beim Patienten nicht, dass außer dem Notruf irgendwelche Maßnahmen ergriffen werden, so dass die Erstmaßnahmen - einschließlich der Reanimation - dann erst durch den Rettungsdienst eingeleitet werden müssen. Auch das kommt leider vor.

  • Interessensfrage an dir Juristen hier im Board:


    Ist eine versuchte Tötung durch Unterlassen so juristisch als Straftatbestand tatsächlich möglich?


    Aber sicher - in dieser Konstellation aber nur theoretisch.


    Um das mal theoretisch aufzudröseln: wir hätten

    • an Tatbeständen im Angebot (vorsätzlichen) Totschlag (mit drei abgestuften Vorsatzformen) und fahrlässige Tötung,
    • durch aktives Tun oder durch Unterlassen und
    • (bei der Vorsatztat) mit Erfolg und als Versuch.


    Totschlag ist es, wenn ich einen Menschen durch mein Handeln töten will (direkter Vorsatz in Form der Absicht) oder sicher weiß, einen Menschen durch mein Handeln zu töten (direkter Vorsatz) oder auch, wenn mir bewusst ist, dass ich möglicherweise einen Menschen töte und ich das billigend in Kauf nehme (bedingter Vorsatz - an der Grenze zur Fahrlässigkeit). Ist der Mensch am Ende *aufgrund meines Tuns* tot, dann ist's vollendeter Totschlag; überlebt er (oder stirbt jedenfalls ohne mein - nachweisbares - Zutun), ist's ein versuchter Totschlag.


    Fahrlässige Tötung ist's hingegen, wenn ein Mensch durch mein Handeln zu Tode kommt, ohne dass ich da wollte oder auch nur billigend in Kauf genommen hätte, aber ich durch Verletzung von Sorgfaltspflichten dennoch strafrechtlich dafür verantwortlich bin.


    Und Totschlag / fahrlässige Tötung durch Unterlassen liegt vor, wenn der Mensch am Ende tot ist, aber nicht, weil ich etwas getan habe, was ich nicht durfte, sondern weil ich etwas *nicht* getan habe, was ich hätte tun müssen. Strafbar ist das nur dann, wenn ich sog. "Garant" war, also eine besondere Handlungspflicht hatte, die nicht jedermann trifft.


    Zurück zum konkreten Fall:


    Wenn ich als Pflegekraft (Garant für die mir anvertrauten Bewohner) erkenne, dass ich Wiederbelebungsmaßnahmen ausführen müsste und der Bewohner ansonsten sterben könnte, ich das aber dennoch nicht tue (und damit seinen Tod will, sicher voraussehe oder zumindest billigend in Kauf nehme - vielleicht, weil gerade Frühstückspause ist?), dann begehe ich einen Totschlag durch Unterlassen, wenn der Patient tot ist. Ist er am Ende nicht tot, ist's ein versuchter Totschlag durch Unterlassen. Und ist er am Ende zwar tot, aber man kann nicht nachweisen, dass das an meiner Unterlassung lag, weil er vielleicht trotz Wiederbelebungsmaßnahmen gestorben wäre, dann ist das ebenfalls ein versuchter Totschlag durch Unterlassen - ich habe ja seinen Tod zumindest billigend in Kauf genommen, wenn ich ihn auch nicht (nachweislich) verursacht habe.


    In der Praxis wird es aber in der Regel am Vorsatz fehlen - man mag ja Pflegepersonal viel unterstellen, aber bewusst einen Bewohner sterben zu lassen oder seinen Tod auch nur schulterzuckend in Kauf zu nehmen, diese Haltung liegt doch eher fern. Und sie wird sich v.a. auch kaum je beweisen lassen. In der Regel wird die Pflegekraft vielmehr nicht erkennt haben, dass man jetzt mal besser etwas täte ("dem geht's noch nicht so schlecht" - "der ist ja schon tot"). Wenn man diese Annahme nicht widerlegen kann, scheidet versuchter Totschlag durch Unterlassen aus, weil der Vorsatz nicht bewiesen werden kann. Totschlag durch Unterlassen scheidet aus, weil man (a) den Vorsatz nicht beweisen kann und (b) nicht beweisbar ist, dass der Bewohner mit sofortiger Wiederbelebung überlebt hätte. Fahrlässige Tötung scheidet aus, weil nicht beweisbar ist, dass der Bewohner mit sofortiger Wiederbelebung überlebt hätte; einen Versuch einer Fahrlässigkeitstat kann des denklogisch nicht geben. Und unterlassene Hilfeleistung scheidet aus, weil es ebenfalls am Vorsatz fehlt; wer nicht erkennt, dass er Hilfe leisten müsste oder denkt, dass jede Hilfe zu spät kommt, handelt ebenfalls vorsatzlos.


    (Ich hoffe, das war jetzt nicht zu komplex und/oder verwirrend.) :pfeif:


    Grüße,
    -thh

  • Zum Thema "Versuch und Vollendung einer Straftat" die Fischer-Kolumne vom 26. April, die die von thh genannten Aspekte ebenfalls ausführlich beleuchtet und erklärt, wenn auch eingebettet in allerlei ausschmückendes Beiwerk:


    Auszug aus der Quelle:


    Link zur Komplettansicht bei ZEITonline: http://www.zeit.de/gesellschaf…-im-recht/komplettansicht